Der Lebenshirsch
Um 3:30 Uhr klingelte mein Wecker. Heute fiel mir das Aufstehen gar nicht so leicht. Die kurzen Nächte und die langen Pirschgänge (bis zu 2x10km pro Tag) durch den masurischen Urwald sowie auch die geselligen Abende machten sich bemerkbar.
Um 4:00 Uhr wurde ich von Kuba, meinem Jagdführer, abgeholt und nach 30 Minuten waren wir im Revier. Es war noch viel zu dunkel, um an das Pirschen überhaupt zu denken. Wir hielten an verschiedenen Stellen dieses riesigen Reviers und lauschten der Brunft, um zu entscheiden, wo wir es heute versuchen wollten.
Aus meiner Sicht gingen wir es zu früh an am heutigen Morgen und pirschten einen Hirsch mit sehr kräftiger Stimme an. Wir kamen auf sicher nicht mehr als 20 m heran, obwohl wir nicht sonderlich Leise aufgrund der schlechten Sicht und des dichten Bewuchses waren.
Bei der Pirsch während der Brunft scheinen Geräusche eine sehr untergeordnete Rolle zu spielen, bei Wind ist es allerdings schon sehr früh vorbei.
Ich ging in den Anschlag doch der Hirsch, der vor mir breit Stand, war nicht anzusprechen und auf einen schwarzen Klumpen schießen, das wollte ich nicht.
Ich sagte daher zu meinem Jagdführer, dass wir es woanders versuchen sollten und hatte auch schon eine Idee wo. Die Brunftschreie aus ca 500m Entfernung versprachen eine sehr starke Aktivität in dieser Ecke des Reviers.
Der Weg dorthin führte uns durch Dickungen, Gräben sowie Sümpfe und den einen oder andern Hügel mussten wir auf allen Vieren erklimmen.
In der Nähe des Brunftplatzes angekommen passte das Büchsenlicht auch schon. Es roch nach Brunfthirsch und wir hörten die Kontrahenten miteinander Kämpfen. In diesem Urwald ist die Sicht jedoch sehr schlecht, so dass es nur den Weg nach vorne gibt.
Wir pirschten also extrem langsam in den dichten Bestand. Ein Hirsch bekam uns mit und ging ab. Und plötzlich befanden wir uns in der Mitte des Brunftplatzes. Neben den gewaltigen Stimmen um uns herum, konnten wir zur Rechten zwei Hirsche kämpfen sehen. Zur Linken trennten sich gerade zwei Kontrahenten voneinander.
Vor uns bekam uns das Kahlwild mit und ging ebenfalls ab. Ich nahm den Zielstock, legte auf und erhoffte mir einen Hirsch, der folgen könnte.
Für einen sauberen Schuss ohne Äste dazwischen gab es nur eine Stelle hinter einer alten Eiche. Und tatsächlich kam der Hirsch. Hinter der Eiche drehte er ein und kam auf mich geradewegs zu. 1,2,3,4,… zählte ich im Bruchteil einer Sekunde die Enden der Krone und entschied mich für einen Schuss, der direkt auf den Stich ging. Das Projektil durchschlug das Herz mittig. Der Hirsch zeichnet und ging nach 30m nieder. Allerdings konnten wir ihn von unserer Position kaum sehen, da er in eine Senke rutschte.
Mein Jagdführer fragte „Was it a big one?“.
Ich lächelte und antwortete „I think that one is good.“
Er wollte sofort zu dem Hirsch laufen, ich forderte ihn jedoch auf noch ein paar Minuten zu warten.
Als wir nach 10 Minuten hingingen, waren wir beide von den Socken. Ich wusste, dass dies kein schwacher war, aber mit dem Kaliber hätte ich nicht gerechnete. Wir zählten 20 Enden, schauten uns an, konnten es beide nicht fassen und umarmten uns. Der Hirsch bekam den letzten Bissen und ich den obligatorischen Bruch übergeben.
Die Bergung war ein eigenes Kapitel, denn wir wussten beide nicht mehr wo der nächste Weg war, aber auch hier haben wir eine Lösung gefunden, die mich die Reparaturkosten einer Traktorschaufel kostete. Während mein Jagdführer Hilfe organisierte, war ich 30 Minuten alleine mit meinem Hirsch. Ich kniete neben ihm und Emotionen überkamen mich in Schüben. Die Zeit alleine tat mir aber sehr gut überhaupt erstmal zu begreifen.
Im Jagdhaus angekommen verbreitete sich die Nachricht dieses Hirsches schnell. Der Hirsch wurde sehr feierlich zur Strecke gelegt, verblasen und es wurde eine Laudatio gegeben. Im Anschluss wurde gesungen und der erste Schnaps des Tages getrunken. Auch der Präsident des Jagdreviers kam sofort, gratulierte mir und überreichte mir eine Plakete als Ehrung für diesen besonderen Hirsch. Die Stimmung, nicht nur bei mir, sondern auch beim Rest der Jagdgesellschaft, könnte nicht besser sein. Alle freuen sich mit mir.
Eine besondere Freude ist, dass meine Eltern mit uns in Masuren sind. Vor über 30 Jahren durfte ich hier meinen Vater erstmalig zur Jagd begleiten. Dieses Mal nahm ich ihn mit.
Fakten:
20 Enden
10,5 kg
30-06 Hornady CX 165 grs