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Ihr Lieben,
die Blattzeit ist um, schön war sie, schwer war sie, und um es bairisch zu sagen:
"Aus is, und gor is, und schåd is das wåhr is". Wobei das bestimmt nicht endgültig gemeint ist.
In alter Gewohnheit, weil es doch so einiges zu erzählen gibt danach, und weil dem ein oder anderen morgen im Büro ein bissel fad sein könnte: eine kleine Lektüre hier für Euch.
Und hier - für die, die es gedruckt lieber mögen - als Download.
Es gibt ein paar Bilder dazu auch, teils hier im Forum:
viewtopic.php?t=56733&postdays=0&postorder=asc&start=150
teils hier im Netz:
http://picasaweb.google.de/bq2210/Blattjagd09#
Viel Spaß Euch beim Lesen, ich hoffe soviel wie mir beim Schreiben!
WH
BQ
Afrikanische Blattereien
oder
Codename „Schneewittchen“
Um es gleich vorweg zu nehmen: ich war noch nie in Afrika. Leider kam immer etwas dazwischen – meistens ein an notorischer Schwindsucht leidendes Portemonnaie. Aber ich habe es fest vor. Eines feinen Tages.
Dennoch: eine grobe Ahnung davon, was Jagen in Afrika sein kann, habe ich möglicherweise doch, erworben auf harten Pürschen im englischen Juwelenrevier. Schon im zweiten meiner bald schon zehn südwestenglischen Jagdjahre, als ich nach zwar schuss-, aber nicht erfolgloser Sommerabendpürsch durchs brusthohe, sonnengebleichte Gras dem Manor House zuging, die untergehende Sonne den Abendhimmel in alle Schattierungen von Purpur bis Glutrot hüllte, die Bäume von Abbotts Wood und Three Corner Plantation Scherenschnitten gleich gegen das Hohe Licht standen, als von Westen her ein heißer Wind über das Feld her zog, Schmielen, Wendel und Goldhafer sich leise wiegten, da fielen mir Robert Ruarks Worte ein, wonach Tanganjika zu manchen Zeiten recht sehr an die gentle rolling hills in England erinnere, und dachte mir – und denke es heute noch: so könnte es sein in Afrika.
But first things first. Die Blattzeit des Achter Jahres war schlicht verheerend ausgefallen. Angekündigt hatte sie sich freilich formidabel: Das Thermometer sank auch nachts kaum unter die Grenze von 25 Grad nach Celsius, tagsüber lagen die Werte gute 10 Strich höher. Der Mond war im Abnehmen und würde zur Hohen Zeit, in des Erntemondes ersten Tagen nicht zu sehen sein. Und merkt der liebe Jäger wohl und gibt der Waidmann acht, verwirrt den Bock der Sonne Glut, den Hirsch die Nacht: eben dieser Sonnenglutverwirrung würde der Bock dieses Jahr nicht durch nächtliches Treiben unterm vollen Mond entgehen können. Zudem hatten Freunde mich großzügig eingeladen, von ihrem niederrheinischen Revier – wenn auch bedauerlicherweise in Abwesenheit der Jagdherrschaft – gründlich Gebrauch zu machen und nebenbei die dortigen Jäger und Jagdgesellen ein wenig ins Blatten einzuweisen. Zu Jakobi fuhr ich los, im Koffer obszöne Munitionsvorräte, im herzen nicht minder hohe Hoffnung.
Als ich am Niederrhein eintraf, lag die Hitze wie eine bleierne Decke über dem flachen Land. Werte um 40 und deutlich mehr Grad machten die Jagd schier unmöglich, wurden wir überhaupt Rehwilds ansichtig, dann lag es niedergetan am Trauf im hohen Farn und war durch keinen Ruf und Ton zu bewegen. Am vierten Tag dann brach das Wetter in Sturzfluten, die Temperatur sank um mehr als die Hälfte ab, und mit der Blattjagd war es - für dieses Revier zumindest – vollends vorbei. Wir versuchten es dennoch weitere Male, aber so klug gewählt die Orte auch waren, so deutlich Plätzen und Fegstellen da waren: Bewegung auf den Ruf hin gab es kaum. Einen Bock, einen schwachen Jüngling, bekam ich mit mehr Müh als Not – und etwelche Tauben am Strich, nachdem ich für einen Nachmittag Büchse gegen Flinte getauscht hatte.
Für England und die normalerweise gemäßigteren Wetterlagen dort rechnete ich mir bessere Chancen aus: im Mai hatte ich eine Reihe guter und erntereifer Böcke bestätigt, ein jahrealter Jagdfreund und stets großzügiger Jagdherr war eingeladen, sich daran gütlich zu tun. Das ehedem hundshäutern schlechte Mengenverhältnis von anfangs vier Gaissen auf einen Bock hatten wir durch scharfe Bejagung des weiblichen Wildes auf Rieglern in den letzten vier Jahren in Griff bekommen. Es sah mithin alles nach einer sehr versprechenden Blatterei aus.
Aber kaum hatte ich die Halle des Hauses in Charlton Abbotts betreten, kaum war mein Blick auf die dort traditionell aufgestellte Revierkarte, worauf mit nummerierten Nadeln die Erlegung sämtlicher Böcke aufgelistet war, fiel mir das hoch hoffende Herz hosenwärts, und zwar ebenso schnell wie direkt: die Karte war gespickt mit den besagten Nadeln, und hatte ich nach der Maijagd die letzte mit Numero Sieben eingesetzt, zeigte mir die höchste Nummer auf der Karte, dass der Bockabschuss so gut wie erfüllt war. Freunde des Jagdherrn hatten – nun ja – ein wenig aufgeräumt. Dazu hing der Nebel dicht in den Feldern und Tälern, das Gras stand brusthoch, war klatschnass und bleischwer: die Blattzeit 08 war schlicht verheerend. Mit mehr Müh als Not kamen ein paar Böcke zur Strecke, darunter der bislang beste des Revieres, ein weiterer, fast ebenso guter schier Abnormer, den ich am ersten Tag in einer der Dickungen gesehen hatte, die aufgrund Lage und vorherrschender Windrichtung weniger als Geländemerkmal, sondern als natürlich gewachsene Lebensversicherung gelten können. Allerdings kommt seit einigen Jahren ein junger Niederländer immer wieder ins englische Revier, der allein schon aus Instinkt und Gefühl mehr übers Rehwild vergessen hat, als ich jemals lernen werde. Jaap setzte sich an besagter Dickung an und schoss tatsächlich, bei strömendem Regen und schlechtem Wind diesen Bock innert einer Viertelstunde. Den Blatter hatte er noch nicht einmal dabei.
Mir selbst gelang es, einen ganz alten Kund’ von seinen irdischen Sorgen zu erlösen. Der hatte seinen Einstand ursprünglich in einem an fünf Hektar großen, schmalen, steilhanggelegenen und stark verwucherten Waldstück. Und als wäre er da drin nicht so schon kaum zu erwischen gewesen, hielt er sich noch eine persönliche Leibwache in gestalt einer uralten Geltgaiss, wahrscheinlich sogar seiner verehrten Frau Mama, die, egal wie gekonnt und nach allen Regeln des Handwerks man sich auch hineinpürschte in den Krautwald, sofort ein gotteslästerliches Schimpfkonzert anhub, und der Monsieur Capreolus empfahl sich still in seinen Brombeerhag. Jetzt aber, auf seine alten Täg, hatte ihm offenbar ein jüngerer Siedler den Einstand verleidet: der Alte war mehrfach auf einer halbrunden Schulter zu sehen, die man aber nur von weit unten im Tal überhaupt einsehen konnte. Zweimal hatte ich versucht ihn anzupürschen, zweimal war ich auf knappe zwanzig Schritt an ihm, beide Male war das Gras zu hoch oder das Gelände zu kupiert, um mehr zu sehen als die Spitzen seines G’wichtls. An einem vollends verregneten Tag gegen Ende meines Aufenthaltes hab’ ich es dann mit einem Blatt-Trick probiert.
Das Schulbuch lehrt, wie man sich seinen Blattstand zu suchen hat, wie man dann dort sich zu verhalten hat, und vor allem wie lang man sich dort aufzuhalten hat, nämlich sehr lang. Nun habe ich ein oder zwei Gaissen in den diversen Blattzeiten meiner Jagdjahre gesehen, und die hielten sich, wenn sie suchten, nur höchst selten länger als einige Minuten an einem Ort auf. So hielt ich es hier auch. Ich pürschte mich ins äußerste Ende seines ehemaligen Heimstattwaldes hinein, wo linkerhand hangauf ein paar hohe Buchen standen. Da drunter war es schön raum und trocken vor allem, hier tat ich ein paar Pfiffe. Drei oder vier Mal hat es weich in den Bestand hineingeschmachtet, da kam es schon doppelt rot und wie die Feuerwehr einher: Madame, und im Schlepptau ein Galan – leider aber nicht der Alte Herr, sondern ein herzig dreinschauender und sehr sauber aufhabender Jüngling, dem das Wams noch stramm saß wie das Trikot eines Trapezschwingers. Seine bella inamorata führte ihn geradezu bezaubernd am Näsel herum in Kreis und Achten, und wollte er endlich zu Werk steigen, tat sie ein oder zwei Schritt, dass er wieder herab musste – das aber so abrupt, dass der junge Casanova tatsächlich ein ums andere mal mit abgewinkelten Vorderläufen, ausgestrecktem Träger und selten dummem Gesichtsausdruck in die Waldstreu plumpste.
Der Buchenheister, in den ich mich gedrückt hatte, wackelte in meinem unterdrückten Lachen, als würde er heftigst befegt, tatsächlich tat der Junior, wenn er sich wieder aus seiner schmachvollen Fallposition berappelt hatte, mit ernst-investigativem Blick drei und vier Stechschritte auf mich zu, wurde aber immer wieder von seiner Lehrerin in Liebesdingen abbefohlen, bis endlich beide sich hangab in ein blickdichtes Staudenseparee empfahlen.
Ich blattete noch ein Gsetzl, und pürschte mich dann weiter hangauf, dem Waldrand zu. Dort, gedeckt in einer Hecke, blattete ich ein wenig in die weiten und nassen Wiesen hinein, wartete fünf Minuten zu, bummelte die Hecke hinab ins Eck, pfiff dort ein wenig unter einer alten Eiche herum, und so zog ich Posto für Posto, eben wie eine bummelnde Gaiss, in der Landschaft herum. Den letzten Stand wollte ich am oberen Eck eben jeder Wiese machen, in der der Alte mehrfach gesehen worden war. Vom Wald weg zog sich da eine dichte, breite Hecke in die Wiesen hinein, auf sechzig Schritt zweigte eine weitere den Hang hinab. Vor mir Wiese, hinter mir Wald, und anderseitig der Hecke ein Weizenfeld. Zwei, drei leise Blatttöne, schon kam es langsam und falbrot unten aus der Hecke heraus. Tiefen Hauptes, grauen Gesichts zog der Bock misstrauisch und griesgrämig in die Wiesen hinein. In einer alten Fahrspur, in der das Gras nicht ganz so hoch stand, hielt ich ihn mit einem lauten Fieper an. Den Schuss hat er nimmer gehört. Das G’wichtl war das eines alten Rücksetzers, die Enden keine Enden mehr, sondern Leisten mit kleinen Vorsprüngen, deren aber ungerade acht. Die Stangen nicht zu Spießen verdünnt, sondern flach und beinah schaufelartig ausgebreitert, die Rosen fielen tief über die Stöcke in die Stirn. Ich war’s den Bock zufrieden und froh, aber die gescheiterte Blattzeit war ich leid und hoffte auf mehr Glück und Gunst seitens der Heiligen Petrus und Hubertus im nächsten Jahr.
Wie gut sich die folgende Maijagd anließ, das ist in der Geschichte vom Wermutstropfen entsprechend geschildert. Auf die Blattzeit fieberte ich wahrhaft hin: ich hatte das Revier im Mai als letzter verlassen, in der Zwischenzeit war kein einziger Schuss dort nach Rehwild getan worden: es musste einfach gut werden! Einen Freund hatte ich auch geladen, der mir durch allerhöchste Protektion, sprich durch die beste Ehefrau von allen (Kishon behauptete immer, es wäre die seine gewesen. Ich weiß, dass es die meinige ist.) empfohlen wurde: „Der passt da gut rein, nimm doch den Felix mal mit!“. Und der Felix war dann auch umgehend Feuer und Flamme, riskierte größte innerfamiliäre Krisensituationen durch Absage eines Gesamtsippenopernwochendendes in Verona, und sagte postwendend zu. Ich mag Männer, die Prioritäten zu setzen wissen! Ich hatte uns für eine Woche in England angemeldet und dazu noch – auch um, weil mein bisheriger Taubenguide keine Plätze mehr frei hatte, einen mir noch unbekannten Ringeltauben-Spezialisten zu erproben – einen Tag auf die blaugrauen Woodies gebucht. Die der Jagdwoche vorlaufende Korrespondenz machte Kurierdienste froh. Zu all dem kam noch eine überaus großzügige Einladung ins Hannöversche: Axel, unbeirrbarer und felsenfestverlässlicher Weggefährte in der Organisation von Tontauben-Wettbewerben und Saujagden, hatte Sehnsucht nach dem Wörlitzer Sauhaufen und bat die gesamte Mischpoche in sein Pachtrevier, um gemeinsam und würdig die kürzlich erfolgreich stattgefunden habende Geburt seiner beiden Töchter geziemend zu feiern. Felix und ich rechneten hin, terminierten her, routierten und rotierten und kamen endlich zum einzig möglichen Schluss: Selbstverständlich auch da hin!
All die herrlich verstrahlten, verrückten, lieben Kerle wieder zu sehen: allein das war schon höchstes Fest. Lachen, am Teich herumlümmeln, Würmer baden, Blatter ausprobieren, Wildwürscht über heißen Kohlen. Und dann, am Abend gemeinsamer, geruhsamer Ansitz auf den roten – oder schwarzen, weil dort vorkommend – Bock. Ich hatte mich auf meinem Drückjagdbock mitten auf dem Acker, den Wald linkerhand auf 100 Schritt, besonders gemütlich eingerichtet, weil ich wusste, dass das Jagen in den kommenden Tagen weitaus weniger bequem sein würde: in England läuft es aus der freien Pürsch im hohen Kraut und Gras. Die Sonne wärmte mir den faulen Pelz, die Büchse lehnte geladen an der Brüstung, die Kamera lag schussbereit neben mir auf dem Sitzbrett. Ein paar Ringeltauben kamen vom Feld dahergeflogen und suchten sich die etwas höheren Bäume zur Ruhstatt aus, ein Bussard strich vorbei, weit vielhundert Meter rechts von mir steckte eine Gaiss den Windfang aus dem Mais. Durchs Glas, durchs Spektiv und durchs Objektiv hatte ich sie eingehend studiert, als ich mich wieder meinem eigentlich zugedachten jagdlichen Wirkungskreis widmete. Der junge Wald zur Linken mag an 3 ha groß sein und formt ein sauberes Rechteck, dessen schmale Seite meinem Stand zuliegt. Eine Wiese zieht sich vom Wald auf zweihundert Schritt Breite und fünfhundert Schritt Tiefe dahin, am unteren Ende stehen hohe Eichen, darin auf einem Hochstand aufgepflockt der Standnachbar, der beiden Wörlitzer Axel südlichere, saß. Mein Drückjagdbock lag auf einem Brachstreifen, hinter mir auskeimende Winterfrucht, die sich zu einem Gräblein hinzog, danach eine von hohen Eichen und Buchen gesäumte Wiese.
Es mochte auf einhalb sieben hingehen, als an der langen Waldkante zur Linken das rote Leuchten im Gras war, das mir um diese Jahreszeit den Atem höher treibt: das Glas ließ eine Gaiss erkennen, das Spektiv wies sie als jung, aber nicht jahrig, und nicht führend aus. Ich machte ein paar Bilder von ihr, und als ich die Kamera wieder ablegte, war ein zweiter, roter Fleck in der Wiese. Diesmal war’s ein Bock, ein Jahrling: was den Bau angeht, so kann ich wenig darüber sagen im fremden Revier, schwächer als die Gaiss schien er. Gäbelein hatte er, knapp an den Lauscher hoch. Nun ist das gerade mit den Jährlingen so eine Sache: generell schon, und besonders in fremden Revieren, deren Wildstand ich nicht kenne. Aus den Trophäen in der Jagdhütte der beiden Bestände aber wusste ich mehrere dieser Güteklasse, und zudem hatte mein heutiger Jagdherr uns alle anwechselnden Böcke freigegeben. Somit war auch dieser Jahrling „passend“. Ans Schießen war aber für mich vorerst kein Gedanke zu geben: das Böckle stand auf junge zweihundert Meter in der Wiese, und zudem war noch überhaupt nicht klar, wohin er sich würde wenden wollen – zum Standnachbarn, zu mir oder sonst wohin. Ich war auch ums Nicht-, oder besser ums Noch-Nicht-Schießen nicht bös: Jahrling und Gaiss zu beobachten war einmal mehr ein herrliches Spektakel.
Der Bub bummeläste sich betont unbeteiligt durch die Wiese immer näher an die Gaiss heran. Zupfte sich hier einen Halm und da eine Blüte, tat so, als wären Mädels furchtbar uninteressant und eigentlich weit unter der Würde seiner Beschäftigung, schielte aber immer aus einem Licht zur Madame hinüber. Getreu der Lebensweisheit, wonach die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten den Zickzack-Kurs bedingt, kam er so der an sich ja völlig nebensächlichen Dame immer näher. In der starken Vergrößerung des Spektivs konnte ich beobachten, wie dem Kerl der Windfang immer weiter offenstand, und er den Triebbefriedigung verheißenden Duft, den die Gaiss sichtlich verströmte, immer tiefer einsog. Irgendwann stand das Böckle so massiv unter hormonellem Druck, dass er sich Mal um Mal mit dem Lecker über den Windfang fuhr, grad so wie das Jungvieh auf der Alm es macht. Mit anderen Worten: Der Knabe war hoffnungslos geil. Der Gaiss war dieser Umstand nicht entgangen. Sie ließ den Casanova in Ausbildung immer grad auf wenige Meter an sich heran, dann trippelte sie weiter, machte auch ein oder zwei grazil-kokette Fluchten und wartete dann, bis der Jahrling sich wieder herangezaudert hatte. Irgendwann aber gewann die Natur endgültig die Oberhand, und der Knabe trieb die Gaiss in engen Zirkeln und Fluchten nach allen Regeln der hohen Kunst und Schule. Womit er aber eindeutig nicht gerechnet hatte war, dass die Dame das Spiel ganz offensichtlich aus Erfahrung schon kannte. Mitten im schönsten Zirkeln legte sie einen scharfen Stop ein, so dass der Jüngling pfeilgrad an ihr vorbeischoss. Kaum war er verdutzt stehen geblieben, fing nun die Gaiss ihrerseits an, dem Frechdachs Bescheid zu stoßen und trieb rollentauschend nun ihn vor sich her. Ich hatte Gott Gedankt die Kamera mit guter Optik und bei gutem Licht darauf, und schau ich mir heute das eine Bild dieser Situation an, sehe ich den konsternierten Gesichtsausdruck des Jahrlings, dann muss ich immer noch darüber lachen.
Irgendwann hatte Junior verstanden, dass er zwar als Tisch- nicht aber als Bettgesell willkommen sei, und so ästen Gaiss und Bock einander vertraut, doch stets mit respektvollem Abstand sich langsam aber sicher in meine Richtung herüber. Man mag mich jetzt grausam heißen, oder man mag den Standpunkt vertreten, dass das eben gehabte Erlebnis in dem Jährling ein die spätere Ausübung gesunden Sexualtriebs schwer beeinträchtigendes juveniles Trauma ausgelöst haben könnte, woraufhin ein korrigierender Eingriff deutlich indiziert gewesen: als er 70 Meter hinter meinem Sitz breitstand, hab ich ihn ganz prosaisch gemeuchelt. Der erste Schuss ging zwar fehl, weil ich auf kantigen Bohlen kniend über die etwas sehr hoch gezogene Rückenlehne des Sitzes schießen musste. Aber ich habe frühzeitig gelernt, meine ejektorlose Kipplaufbüchse ziemlich rasch nachzuladen. Gaiss und Bock standen scheibenbreit auf der Wintersaat, die zweite Kugel erledigte das, was die erste schon hätte tun sollen. Ich behielt den Bock noch einige Minuten im Auge, dann kam die Gaiss – offenbar doch eine leicht reizbare Dame – im Stechschritt bis auf knappe Wurfdistanz an meinen Stand heran. Zwei prachtvolle Portraitaufnahmen im Abendlicht hielt sie noch aus, dann konnte ich dank des schnellen Motors meiner Kamera eine schöne Fluchtstudien-Serie von ihr machen.
Ich lehnte mich auf meinem Sitzbankl zurück, besah mir den Abendhimmel und hörte mit zufriedenem Lächeln nach und nach bei den Mitjägern Schuss um Schuss brechen. Der Bocksommer hatte begonnen. Fünf Böcke kamen an diesem Abend zur Strecke, darunter auch einer von den dort beheimateten Schwarzen. Mein Nachbar hatte ihn im letzten Büchsenlicht erlegt. Gefeiert wurde an diesem Abend noch lange. Felix und ich stahlen uns aber halbwegs zeitig davon, denn mit Tau und Tag des Morgens brachen wir auf nach England.
Die Fahrt dorthin durch Holland und Belgien verlief zwischenfallslos. England begrüßte uns dagegen mit schwerem Verkehr und langen Staus, die aber allsamt dank der segensreichen Einrichtung einer Satellitennavigation gut zu umfahren waren. Am mittleren Nachmittag trafen wir sicher und wohlbehalten in Charlton Abbotts ein. Georges und Hera standen in der Haustür, Tristan kam die Treppe herab. Ranger, meinen lieben alter Hundefreund Ranger deckte schon der grüne Rasen hinterm Haus, und auf seinen Stein hatte Tristan die Worte setzen lassen: „Companion of a lifetime“ – „Gefährte meines Lebens“. Aber was watschelwuselte da hinter ihm die glatten Steinstufen herab? Nicht schwarz, wie mein alter Freund, blond dafür, zwar jung und unbeholfen noch mit grad vier Monden, aber mit genau dem gleichen Minenspiel wie Ranger begrüßte mich der junge Hund: mit dem ganzen Körper wedelnd, das Haupt vorgestreckt, die Lefzen hochgezogen grinste mich das Hundel an. „Simba. Rangers Enkel“ stellte mir Tristan seinen neuen Freund vor. Mir ging das Herz auf, und im Verlauf der Woche haben der Welpe und ich innige Freundschaft geschlossen.
Am frühen Abend brachen Georges, Felix und ich zu einer Erkundungsfahrt auf. Zum einen sollte Felix eine grobe Vorstellung von Lage, Wuchs und Begrenzung des Revieres bekommen, und ich wollte wissen, was an Bewegung zu sehen war, wollte eine ungefähre Ahnung vom Stand der Brunft und damit den Aussichten auf die Blattzeit bekommen. Wir nahmen uns den nördlichen Teil des Revieres vor, und da der Grenzumriss des Estates in Etwa einem alten, schwer verschafften Bergstiefel ähnelt, nenne ich diesen Bereich den „Schaft“. Tristan hatte für dieses Jahr eine der offenen Fasanenvolieren weiter in den Wald hinein verlagert, somit war Limehill für die Jagd auf Rehwild ex obligo, da rund um jede dieser großen, nach oben offenen Volieren eine Sicherheitszone von 200 Metern uns einzuhalten seit jeher geboten ist. In dieser Zone darf keine Büchse abgefeuert werden, und auch von außerhalb darf kein Stück Wild in dieser Zone mit der Büchse beschossen werden.
Felix und ich nahmen uns daher den unterhalb davon gelegenen Wald vor, Spoonley geheißen oder „Roman Villa Wood“, weil sich dort die Überreste eines Landhauses aus Zeiten der römischen Besatzung befindet, mit gut erhaltenen und wunderschönen Bodenmosaiken. Einmal mehr muss ich den britischen Verstand preisen: läge diese Villa in einem deutschen Wald, so würde umgehend ein Besucherzentrum mit Parkplätzen und Fressbuden errichtet, ob dies dem Grundstückseigner passte oder nicht. Hier dagegen waren die Mosaike nach Entdeckung kartiert, katalogisiert, photographiert, konserviert und anschließend sicher versiegelt worden. Wer sie sehen möchte, der kann die Bilder und Skizzen davon im Museum der nächstgelegenen größeren Stadt bewundern, der genaue Fundort wird der Allgemeinheit nicht bekannt gegeben. Zudem liegen die Überreste sicher geschützt im undurchdringlichsten Teil des Waldes, und da im Vereinigten Königreich kein freies Betretungsrecht der Fläche für jedermann existiert, da alle sich an einige wenige genau bezeichnete Wege zu halten haben und dies auch tun, sind Kulturdenkmal, Wald und Wild gleichermaßen vor den vandalisierenden Horden vorgeblich bildungshungriger Menschen geschützt.
Dieses Wäldchen druchpürschten wir, blatteten auch an zwei Ständen, da aber just in diesen Tagen ein Teil dieser Waldung der durchlichtenden Säge überantwortet worden war, nahm es mich nicht weiter wunder, dass mir aufs Blatt nichts ansprang. Wechsel, Plätzstellen und Fegemale gab es aber zu Hauf, und als wir in die staunassen Lagen des Waldes kamen, da war der Bewuchs von Hexenringen und Treibensachtern scher durchzogen. Felix bekam auf diesem Pürschgang eine erste Ahnung davon, was das Jagen in Charlton Abbotts bedeutet: schweres, langsames, konzentriert Schritt vor Schritt möglichst lautlos setzendes Gehen in störrischem, hohem Bewuchs. Nicht selten braucht man für die kurze Strecke eines guten Flintenschusses eine Viertelstunde oder gar noch länger. Leichte Kleidung ist völlig fehl am Platz: Brombeerranken, Klettengeschling, Distelwuchs und Schwarzdornhag machten sie rasch zu Fetzen. Fest muss die Kleidung sein, fest die Stiefel, und wasserdichte Gamaschen haben sich ebenfalls bestens bewährt. So dicht ist der Wuchs an manchen Stellen des Revieres, dass ein bestimmtes Tal sogar seinen Namen davon getragen hat: ein junger Jäger wollte es einmal druchdrücken, und schloff mit seinen nagelneuen Goretex-Hosen ins Gewachs. Als er auf der anderen Seite wieder herauskam, hingen ihm seine Hosen in Fetzen um die blutig gerissenen Beine, und seither heißt dieses kleine Tal „Goretex Gully“. Ich habe ein oder zwei Rehwildreviere bejagen und genauer kennenlernen dürfen. Ich wüsste keines, das schwieriger zu bejagen wäre als dieses.
Als Felix und ich nach gut einer Stunde leider erfolglosen Pürschens wieder aus Spoonely herausgekommen waren, stand Georges bei seinem Geländewagen und studierte mit dem Spektiv in einer gut 2 Kilometer auf der anderen Talseite gelegenen Wiese herum: „Da habe ich vorhin einen Bock treiben sehen. Ich bringe Euch bis zur Straße, dann pürscht Ihr die Hecke entlang den Hang hinauf und schaut ihn Euch etwas genauer an. Ich fahre weiter und schaue noch ein paar andere Ecken an. Ihr könnt dann zu Fuß zum Haus zurückgehen.“
Freund Felix hatte mich schon lange vor der Blattzeit nach der richtigen Adjustierung für das Revier befragt. Da die hohen Halme der Schmielen und Wendel in den Wiesen im Sommer – wie beschrieben – oft völlig verblichen sind, hatte ich ihm neben normalem Jagdzeug die Mitnahme einer Safarijacke empfohlen. Die zog er sich jetzt an, und entlang der beschriebenen Hecke pürschten wir den Hang hinauf. Es ist ein hübsch steiler Stich da hinauf, von mehr als 15 Steigungsprozenten, und das hohe Gras machte das Gehen, vor allem das möglichst lautlose Gehen auch nicht eben einfacher. Ich weiß, dass mich jetzt mehrere wohltrainierte Zeitgenossen ein Waschweib zu heißen sich gerufen fühlen, aber erstens bin ich kein wohltrainierter Zeitgenosse, zweitens besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen normalem Gehen im Hang und lautlosem Pürschen im bauchhohen Gras steiler Wiesen bei schwülheißen Sommertemperaturen. Wir waren beide wohlgesotten, als wir an der oberen Wiese anlangten, genau in einem Heckeneck.
Von unserer Hecke bis zum oberen Rand waren es gute dreihundert Schritt, und die Hecke, die die Wiese nach oben hin begrenzte lag 20 Meter höher als die, gegen die wir standen. Felix stand gut gedeckt in der Hecke, die Büchse schussbereit auf dem Dreibein. Lediglich seine etwas hell geratene Safarijacke stach ein wenig gegen das Buschwerk ab. Auf die ersten Blattlaute regte sich in der Wiese nichts. Der Bock, den Georges vor gut einer halben Stunde von der anderen Talseite aus gesehen hatte, hatte eine Gaiss getrieben. Er konnte inzwischen über alle Berge sein, wobei ich eine relativ genaue Vermutung seines Aufenthaltsortes hatte: an den obern Rand der Wiese schließt sich ein großes Plateau an, auf dessen anderer Seite das Gelände langsam gegen den Wald hin abfällt. Auf dieser Seite hält sich Rehwild gerne auf, und beizukommen ist ihm dort nicht: der Hang ist in sich solcher Art gewölbt, dass man auf zwanzig oder weniger Schritt am Wild sein muss, um es sehen zu können. Das ist aber im hohen Gras nicht machbar. Die Gaiss mit dem Kitzruf von dort herüber zu holen, war aus mehreren Gründen aussichtslos: zum einen war die Distanz zu groß, zum anderen wusste ich nicht, ob der Bock mit einer Schmalen oder einer führenden Gaiss des Wegs war – und selbst hätte ich die Sicherheit gehabt, dass es eine führende gewesen sei, so hätte ich doch nicht gewusst, wo sie ihre Kitze abgelegt hatte. Die Gaiss weiß metergenau, wo sie ihre Sprösslinge gelassen hat. Und soll der Kitzfiep Erfolg bringen, muss ich zumindest in der Nähe der Kitze, besser sogar noch zwischen Kitzen und Gaiss mich befinden.
Ich versuchte es daher mit dem normalen Gaissruf, schön sacht und stad. Vielleicht würde ja aus dem kleinen Wäldchen, das unsere Wiese nach Norden hin berührte, ein Bock herauswechseln. Nach der dritten oder vierten Strophe sah ich ganz oben in der Hecke am Horizont eine graurote Bewegung: im Glas hatte ich ein kleines Stück Rehwild, so gering, dass ich zuerst an ein Kitz dachte. Trotzdem hatte der erste, der allererste Eindruck, auf den ich mich zu verlassen gelernt habe, etwas – nun ja – Bockhaftes. Leider habe ich bis heute noch nicht vollends verinnerlicht, dass ich mich auf diesen ersten, instinktiv-intuitiven, in Sekundenbruchteilen entstehenden Eindruck verlassen sollte – er hat sich im Rückblick immer als richtig herausgestellt. Grad am Rehwild kann man stundenlang ansprechend herumdoktorieren, das Gesicht beurteilen, die Statur, Haltung und Stärke des Trägers, Bauch- und Rückenlinie in Betracht ziehen, nachsehen, ob da, wo der Träger in den Ziemer übergeht die bewusste kleine Wanne ist, die der junge Bock noch hat, der mittelalte aber nimmer, kann man viele und aberviele kleine und kleinste Zeichen werten und wägen – und zwei Schritt weiter in ander Licht gezogen steht ein völlig neuer Bock da. Dabei ist noch nicht eingerechnet, dass es beim Reh kein zu 100% immer und stets verlässliches Zeichen gibt, selbst der Zahnabschliff kann täuschen. Und dennoch, lag der Bock dann auf der Strecke, dann war’s eigentlich immer vom Alter her das Stück, als das ich es im ersten Ansehen angesprochen hatte. Wenn man sich nur stets darauf verließe: immer noch kann’s mir geschehen, dass ich den für jung Angesehenen mir alt geredet habe, und der Jüngling dann im Grase lag, oder der für Alt besehene jung geschaut wurde, und andern Tags lang bei anderem Jäger der Uralte in der Wildkammer.
Als mir oben, nebst Humblebee How auf den Wiesen dieses geringe Wild in Anblick geraten war, da sagte dieses erste, unterbewusste Ansprechen: Junger Bock, und bedauernswert gering. Dann war wieder Gras dazwischen, und der nächste, genauere Blick durchs zehnfache Pürschglas ließ das Wild eher wie eine schwache Gaiss aussehen. Ich probierte ein, zwei helle Töne auf dem Kitzruf, und wirklich warf das Wild auf und kam, wenn auch nicht im schnellen Sprung, so doch stetig und graderwegs auf uns zu. Ich blickte Felix ratlos an, er sah ratlos zu mir zurück. Eben tauchte droben im Hang das Haupt des Wildes wieder auf, und diesmal war’s ein reines Kitzgesichtlein: „Starkes Kitz?“ fragte ich Felix. Der schüttelte den Kopf – und recht hatte er eigentlich schon: zu stark denn doch, und zu rot für diese Jahreszeit, wo die Kitze eben die Flecken verloren haben und eher graubraun sind denn hell leuchtend wie ihre Eltern und älteren Halbgeschwister. Wär’s Frühjahr gewesen, dann wäre es ein starkes Kitz gewesen, so sicher, als Pferde den Wagen ziehen. Aber Sommer war es, hoher, heißschwüler Augustsommer, und da war es Punktum nun zu stark für ein Kitz, dieses Stück, das jetzt in einer kleinen Senke verschwand.
Ich hielt den Ton, und das Stück die Spur. Fünfzig Gänge vor uns tauchte es jetzt aus der Senke wieder auf, immer noch spitz auf uns zustehend. Ich lenkte den Ton mit Drehung des Kopfes und lautschirmender Hand zur Rechten, zum Schützen hin, um für den Fall des Schusses ein breit stehendes Ziel präsentieren zu können. Wie am Schnürl gezogen folgte das Wild. Und als auf dreißig Schritt nun das Haupt eben sichtbar wurde, da sah ich es dann mit freiem Aug: über den Lichtern ging die Stirn steil, beinah senkrecht einen Daumenbreit nach oben, und flachte dann zum Plateau ab: das war der mit Abstand schwächste Jahrling, den ich jemals in diesem Revier gesehen hatte. „Schlechter Jahrling, dringend bitte schießen“, zischte ich Felix zu. Der nahm die Büchse ins Gesicht, entsicherte und folgte dem Wild, das immer noch von dichtem Gras verdeckt war. Zehn Gänge noch, dann hätte der Jahrling eine Fahrspur erreicht, wo ein Schuss gut möglich.
Ich weiß, dass in jedem Lehrbuch steht, das Wild habe frei zu stehen, bevor man die Kugel aus dem Lauf lässt – und das steht dort auch mit einigem Recht. Aber in den hochwüchsigen Wiesen habe ich manchen Bock erlegt, der immer noch mehr Grashalme vor dem Blatt hatte, als es die genaue Auslegung des Lehrbuches gestattet. Aber auf die blattzeitlich kurze Distanzen (im Mittel habe ich eine englischen Wiesenblattböcke auf ein Dutzend Mannschritte erlegt) hat die Kugel immer noch ihr Ziel gefunden – die von mir bevorzugten und von meinen Gästen auch stets eingeforderten langsamen Kaliber und schweren Geschosse vorausgesetzt. So war ich es denn auch nicht weiter bös, als bei Felix der Schuss brach und der Bock noch nicht in der Fahrspur stand, sondern im nunmehr sehr schütteren Gras davor. Der Schuss ging fehl, der Bock flüchtete weiter in die Wiese hinein, stellte sich dann auf fünfzig Meter in einer Graslücke breit und frei. „Noch mal!“. Im Knall tauchte das Wild weg und flüchtete dann in kurzen, abgehackten Fluchten und einen Halbkreis beschreibend in die Wiese hinein. Nach zwanzig und etlichen dieser brach der Bock zusammen. Felix meinte, etwas weich abgekommen zu sein, aber das Fluchtbild ließ mich ihm „Waidmanns Heil!“ sagen. Er schüttelte den Kopf. Zwei Zigarettenlängen standen wir da, die Stelle des Zusammenbrechens im Aug. Da rührte sich nichts, aber auch gar nichts mehr. Ich wollte los. Da sah ich, dass der Bock das Haupt hob. Felix wurde vom Schussfieber arg gebeutelt, so griff ich zur Waffe, bekam aber den Wildkörper keinen Millimeter weit frei. Das Haupt sank in einer raschen, für das letzte Verlöschen so typischen Seitwärtsbewegung ins Gras. Wir warteten weiter zu und als sichtlich kein Regen mehr war, wollte ich mit dem Schütz zum Wild treten. Ich war mir der Beute sicher, bat Felix aber trotzdem, mit geladener Büchse im Halbanschlag vor mir her in Richtung des Wildes zu gehen. Langsam pürschten wir vorwärts, und als wir auf drei Schritt heran waren, als die Decke des Bockes bereits zum greifen nah vor uns im Gras zu sehen war, da wurde das Wild hoch und flüchtete schwerfällig von uns weg.
Felix’ durchs Zielfernrohr nachgeworfener Schuss ging fehl, der Bock schob sich dreißig Meter vor uns in ein dichtes Grasgebüsch ein. Fehler hatte ich nun bei Gott übergenug gemacht. Das schwerkranke Wild aber jetzt der Sommerhitze und den Fliegen zu überlassen, bis es irgendwann unbestimmten, aber stressbedingt fernen Zeitpunkts qualvoll verdämmere, das war mir meines nicht mehr. Ich bat Felix, das Zielglas abzumontieren und ließ mir die Waffe geben. Die geladene Büchse im Halbanschlag ging ich nun auf das Bett zu. Ein letztes Wegflüchten auf wenige Schritt war es noch, dann warf ein kurz angetragener Fangschuss das Wild endgültig ins Gras und hoffentlich bessere Äsungsgründe.
Es war kein froher Gang die Wiesen hinab der Strasse und dem Manor zu. Wir holten das Auto, um das Wild abzutransportieren. Für die Wildkammer taugte das mit meiner letzten Kugel arg zu Schanden geschossene Stück nicht mehr, es wanderte graderwegs in den Luderschacht. Mit betretenen, verschwitzten Gesichtern betraten wir das Esszimmer, und da ich als Pürschführer und Fangschütz die letzte Verantwortung trug, beichtete ich Georges und dem Jagdherrn das Gescheniß. Die Absolution wurde uns beiden gnädig erteilt.
Georges aber, der uns von der anderen Talseite beobachtet hatte, Georges hat die Angewohnheit, jedem Jagdgast einen Kriegs- oder Codenamen zu geben. Jener Gast, der einst mit der letzten Kugel aus einem auf einen Bock in schneller Folge völlig leerrepetierten Magazin diesen auf astronomische Distanz mehr glücklich als gewollt erlegte, heißt bis heute intern „Machine-Gun-Claude“, ein anderer, der neben großem Fachwissen auch eine frühpürschbehindernde Vorliebe für alte Bordeaux-Weine hegt: „Pomerol“. Felix führt seit dem hier beschriebenen Tag seinen eigenen Kriegsnamen in Charlton Abbotts. Georges hatte uns nämlich von seiner fernen Warte nur entdeckt, weil Felix’ nagelneue und erwähntermaßen recht hell geratene Safarijacke wie ein weißer Fleck aus dem Wiesengras herausleuchtete. Und fürderhin ist mein Jagdfreund meinen Jagdfreunden bekannt als „Snowwhite“. Das heißt soviel wie: Schneewittchen.
Die nächsten Tage waren für Schneewittchen ungewohntes Jagen. Braucht man in Deutschland, bedingt durch Jedermannes Recht, die Fläche in allen Teilen zu betreten, vor allem Sitzfleisch und Geduld, um sein Wild zu strecken, so braucht es in unseren englischen Hecken, Krautgärten und Wiesen gutes Beinwerk und kräftigen Atem, will man Erfolg haben in der Blattzeit. Ich habe es weiter oben bereits erwähnt: das ist kein gemütlicher Schlendrian über englisch gestutzten Rasen hinweg, das ist oft genug sauer Waidewerk in hohem Zeug und Gerank, das dennoch so leis es irgend geht überwunden sein will. Und setzst Du darin dann umsichtig und mit der Geschwindigkeit des Minutenzeigers Deiner Uhr Stechschritt vor Storchtritt, speicherst Du die acht Handbreit Boden vor Dir im Hirn genau ab, damit Du Deinen Stiefel nicht auf Laub und dürres Astwerk setzt, bückst Du Dich unterm Haselstrauch hinweg und windest Du Dich im selben Moment durch trockene Hollerstauden – ich hab noch Keinen gesehen, egal wie gut er in Übung und Atem stand, dem nicht nach zwanzig Metern solchen Wegs der helle Schweiß über die Brauen rann. Von keiner Blattpürsch dort sind wir, Gast und Guide, je trocken zurückgekehrt. Manchmal war es der Regen, der uns von außen nässte, sonst war es der eigene Saft, in dem wir sotten, und häufig genug, besonders in diesem Jahr, waren es beide Elemente.
Das frühe Aufstehen um vor Tau und Tag draußen zu sein, das können wir uns dort, Gott und der Wegdisziplin der wenigen Erholungssuchenden gedankt, sparen. Halber Siebene in der Küche für ein Stück Brot, eine Tasse Tee, einen Happen Wurst, um Sieben im Feld. Dort verbleibend bis zur Neun, heim, ein rasches Frühstück, eventuelle Arbeit in Wildkammer oder Revier. Gegen Elfe wieder hinaus, Faulbummelpürsch bis gegen die dritte Nachmittagsstund’, dann wieder heim, ein wenig Atzung, vor allem Flüssiges. Einnicken auf den weichen Sofas im Salon, und spätestens zur Sechs wieder im Wald, dort bis zum Zunachten. Das Wild versorgen, ausgehungert übers meist englische, doch durch Großzügigkeit des Jagdherrn stets von besten französischen Weinen begleitete Souper, ein, zwei Brandy noch, dann zu Bett. Diese Wechsel hielten wir ehern. Oh, hätte nur das Wild die Seinen ebenso gehalten! Ich wusste genau um den ein oder anderen Kund, der recht gepasst hätte in diesem Jahr, und um viele Ecken, wo immer alte, interessante, gewiefte und mit allen Unguenten gesalbte Herren des Weges hätten sein müssen. Aber es hält der Bock in seiner hohen Zeit nur unstet fest an Heim und Herd, und treibt sich samt seiner Dulcinea oft herum in Ecken, wo er ungestört der Liebe pflegen mag – und verdenken kann ich ihm das nimmer. Schimpft mich verlogen und sentimental, aber je mehr ich auf mein liebstes Wild Capreolus jage, umso mehr ist da ein echtes Verstehen. So manchen hab ich ziehen lassen, weil er mich geahnt und nicht gesehen, hab ihn gegrüßt, ihm einen guten Tag gewünscht bis auf ein ander Mal. Auch viele, die ich nimmer konnte, nimmer wollte ihrer Seelenruh’ in Klee und Kräuteln einfach mir nix, Dir nix umblasen. Andere, die so zu Stunde und Stimmung gehörten, dass ein Schuss nicht Jagd, sondern nur Zerstörung wäre gewesen. Und nimmer, nie und nimmer hab ich – wie so manche, die drum prahlen – den Bock von seiner Gaiss herabgeschossen. Es gab wohl den ein und anderen Jäger, der mit mir ging, und der das nicht verstanden hat. „Es könnte doch keinen schöneren Tod geben, so mitten in Lebensglück und Leidenschaft von jetzt auf gleich dahingerafft zu werden!“, das sagten sie mir jedes Mal, wenn ich den Schuss verboten hatte. Ich habe sie dann meist zurückgefragt, ob sie wohl selbst in selber Situation so gedacht und gefühlt hätten, wenn sie mittendrin und VOR dem Ende und der Erfüllung hätten eine Kugel stechheiß hinters Blatt bekommen.
Wir sahen viel Wild auf diesen Pürschen, und stets war es ein sehr erfreulicher Anblick: die gezählten Häupter nach Bock und Gaiss heilten sich sauber die Wage, das ehemals kriminelle Geschlechterverhältnis war also wirklich und ehrlich beim erstrebten Gleichstand angekommen. Zum Zweiten sah ich zum ersten Mal in diesem Revier eine nennenswerte Anzahl suchender Böcke, wie sie mit tiefer Nase, gleich dem Jagdhund auf der Fährte, nach Weib und Wollust ihres Weges zogen. Und zum Dritten war es jedes, beinah jedes Mal ein braver, guter und das ein und andere Mal sogar hochbravgutstarker – Jungbock, der sich da nach Leib und Liebe umtat: der eine sprang uns durch ein Wiesental aufs Blatt direkt bis unters Gesicht, der andere traute sich nicht recht, weil er schon Senge bezogen hatte von alten Herrn, und trotzdem war das schmachtsehnsüchtige Fiepspiel so unsäglich betörend und anziehend, dass er in weiten Schleifen schielte nach der vermeintlich einsamen Schönen.
Dennoch – das, was wir zu erlegen uns vorgenommen hatten, nämlich schwache Jährlinge und Zweijährige oder alte, reife Herren, das kam uns nicht vor.
Denn nichts ist die Blattzeit weniger als die Garantie, bestimmten Böcken das Fadenkreuz oder die Muck im Grinsel hinters Blatt zu setzen. Viel eher ist dies die Zeit, in der ein ganz bestimmter Bock recht eigentlich am schwersten zu bejagen ist – wenn man einmal von der dummen, sinnlosen Belästigung des Wildes in der Feistzeit absieht. Denn die Blatterei steht in Erfolg oder Misserfolg auf drei Säulen: Zum ersten und zum wichtigsten das „Wo“. Wo suche ich meinen Stand? ist darin die am wenigsten wichtige Frage, aber: welcher Bock ist wo des Wegs, und wer drumrum noch sonst? Als zweites gilt das „Wann?“, die Frage nicht nur nach dem rechten Moment des Jahres, sondern nach dem rechten Moment genau dieser einen Brunft, ja, genau dieses einen Bockes: steht er noch bei seiner Madame, oder steht er erst bei ihr – oder gar nicht? Und wenn gar nicht: steht der dann überhaupt noch hier oder ist er vielleicht nach anderen, vielversprechenderen Gegenden gezogen. Letztlich noch das „Wie“, die Frage danach, wie ich meinen Blatter hand- respektive maulhabe, und wie ich eventuell plätze oder fege. Dies ist der am wenigsten wichtige Faktor, aber leider auch der einzige in dieser Gleichung, den ich zu hundert Prozenten beeinflussen kann. Den nächstwichtigeren, das „Wo“: darauf habe ich vielleicht sechzig Prozent Einfluss, und auf den wichtigsten, das „Wann“, darauf stehen mit vielleicht zehn oder zwanzig Prozent Einwirkung zu Gebot. Mithin: spannende, erlebnis- und vor allem lehrreiche Jagd, deren Erfolg weitaus höher wiegt als einer, der mit hartem Hintern ersessen.
Wie spannungsreich, wie lehrreich solch ein Blattstand sein kann, wie man da echt und recht an seine Grenzen geführt wird, das will ich hier erzählen: sieben schusslose, aber überreiche Pürschen hatten Felix und ich hinter uns gebracht. Am Abend hatte ich mir einen er wildreichsten Revierteile vorgenommen, dem ich am Anfang meiner englischen Zeit den Namen „Deer Larder“ – „Wildkammer“ gegeben hatte, weil dort immer Anblick war. Vier Wiesen, jede zwischen sechs und acht Hektar groß, stoßen hier aneinander, fein säuberlich abgegrenzt durch dicke, alte Hecken. Wald, Heimstatt und Einstand stoßen daran, in Goretex Gully und Oak Plantation. Hier wusste ich vom Mai und schon vom letzten Jahr her einen alten, reifen Bock, den ich Felix zugeschrieben hatte. Er hatte seinen Einstand im bereits erwähnten Goretex Gully, zog aber zur Äsung stets auf die Wiesen hinaus. Eine einzige Stelle gibt es, an die er mit dem Blatt zu locken ist: ein kleiner, seichter Graben, der den Einschnitt von Goretex Gully in die Wiesen hinaus fortsetzt. An dessen Spitze stellten wir uns in die Hecke. Beim Hinpürschen stand uns eine Gaiss im Wege. Ich hatte meinen Freund im Vorhinein schon auf solchen Besuch bereitet und ihm gesagt, dass wir in diesem Falle laut miteinander redend weitergehen, nicht weiterpürschen wollten: das Wild dort kennt Spaziergänger und weiß sie genau vom schleichstillen Jäger zu unterscheiden. Die Gaiss nahm uns war und begab sich in hohen, aber seltsam staksigen, beinah krank wirkenden Fluchten von der Hecke weg in die Wiesen hinein. Als sie völlig vom Gras verdeckt war, stahlen wir uns an die Hecke hin und blieben dort reglos stehen. Keine fünf Minuten dauerte es, dass die Gaiss – beständig sichernd – wieder zu unserer Hecke, aus der sie abgesprungen war, zurückkehrte. Sie gab zwei zwitscherleise Fieper, und dann kam es braungrau aus dem Heckenrand: ihre beiden Kitze tölpelten durchs Gras und drängten sich an die Mama, die sie rasch und ohne Federlesens in die undurchdringliche Sicherheit des Goretex Gully verbrachte. Sie hatte die Störung genau als etwas potentiell lebensbedrohliches erachtet, war – ähnlich der Entenmutter, die den Eindringling mit hängenden Schwingen von der Brut wegzulocken sucht – scheinbar krank von ihren Kitzen weggeflüchtet, um sie, als sie relative Sicherheit wähnte, umgehend in absoluten Schutz zu verbringen. Der alte Bock, den ich hier zu sehen hoffte, der ließ sich allerdings nicht blicken. Der hockte wohl sicher und zufrieden im dichten Gerank des Goretex Gully und verspürte offenbar keine wie auch immer geartete Lust.
Wir bummelten uns die Wiesen und Hecken entlang, blatteten hier, lockten dort, am Eichensaum sprang eine Gaiss auf den Weg, eräugte uns und tauchte wieder weg, der Bock dahinter rumpelte grad für zwei Sekunden ins freie, im Wegflüchten sehe ich, dass die rechte Stange drei Finger über der Rose abgebrochen ist. Hübsch starker Träger. Später dann holten uns einen zwar zu jungen, aber dafür ausnehmend guten Bock auf wenige Schritte heran, der sich nach der obligaten Portraitaufnahme erst von dannen empfehlen wollte, als wir beide freundlich den Hut lüfteten und ihm Guten Tag und Guten Weg wünschten. Ob er hinreichend verblattet war? Ich weiß es nicht. Ich hoffe es. Und falls mein Leser nun stutzt: Ja, es gibt Böcke, speziell junge, gute Böcke, die ich mit voller Absicht dergestalt verblatte, dass ich sie nahe heranhole und mich dann so deutlich wie möglich zu erkennen gebe. Warum? Es ist mir lieber, ein Zukunftsbock springt mir in dieser Brunft nicht mehr aufs Blatt, als dass er - in der Hektik und der sekundenbruchteilschnellen Entscheidung am Blattstand – vor seiner Zeit die Kugel bekommt. Dass ein Bock so massiv verblattet wird, dass er am Brunftgeschehen überhaupt nicht mehr teilnimmt, das ist ein Argument, das ich in dieser Form bisher nur bei Gagern gelesen habe – und der war ein wortgewaltiger Gegner jeglicher Lock-, speziell der Blattjagd; dies allerdings mehr aus sentimentalen, denn aus wildbiologischen und jagdpraktischen Gründen.
Wir hatten die vier Wiesen der Deer Larder gründlich inspiziert, und da es noch gut ein und eine halbe Stunde bis Sonnenuntergang Weile hatte, war zumindest noch einer, vielleicht zwei Blattstandln drin, ein größerer Ortswechsel aber nicht mehr. Die einzige Möglichkeit, die uns offenstand, war auch die nächstliegende: Mixie’s – wenn wir den Namen dieses Wäldchens einmal auf den ganzen Komplex ausdehnen wollen. Der Wald selbst krönt den westlichen Hang eines Wiesentales, das an 500 Schritt lang und deren dreihundert breit ist. Am nördlichen Ende liegt eine namenlose, vom Vater des heutigen Besitzers angelegte Fichtenpflanzung, und nach Osten hin schließt Mixe Valley mit Cherry Tree Hill ab, ein dichter Weiß- und Hagdornverhau, der ein raumes Holz umschließt, darin eine der erwähnten Flugvolieren gelegen ist. Genau das macht diesen Revierteil so interessant. Wie erwähnt, umgibt jede dieser Volieren ein cordon sanitaire von 200 Metern. Bei strenger Auslegung dessen lässt sich während der Blattzeit das Rehwild nur dann bejagen, wenn es zumindest im halben westlichen Hang steht, oder in der westlichen Hälfte des namenlosen Waldes, der den Talschluss bildet. Dazu kommt, dass der Wind in diesem Revier fast immer aus Westen weht und damit genau auf die wenigen Flächen des Tales hin, die bejagbar sind. Wer es als Bock so sicher hat, der mag alt werden.
Um den Wind brauchten wir uns für diesmal keine Sorgen zu machen: die Luft lag schwülheiß und bleiern ohne Regung. Wir pürschten am Waldrand von Mixie’s dahin, langsam, gemächlich und trotzdem schweißgebadet ob des drückenden Wetters. Vom Horizont kam es graudunkel und regenschwer, und im Bestand, unter den Fichten und Lärchen war es stockfinster. Heraußen, auf der Wiese war noch gutes Schusslicht. Wir arbeiteten uns langsam Richtung Talschluss vor. Als der Rand des namenlosen Waldes gut einzusehen war, hielt ich an um das Gelände mit dem Glas abzuleuchten. Richtig stand drunten im hohen Zeug am Saum ein Reh. Doch: was es war, das konnte ich im Halmenmeer mit dem zehnfachen Glas nicht mehr sehen, nur die Fernlupe, das Spektiv konnte da noch helfen. Am Gehstock angestrichen, sitzend im Hang ging es leidlich ruhig zu schauen: nix auf dem Häuptel, Gaiss. Dahinter gleich noch mal rot: doch was am Haupt, ordentlich auf dem Haupt, Handbreit über die Luser und hübsch stark dazu: Bock! Alter tät’ auch passen, fünfe und mehr, wie er steht, wie er schaut. Aber: hübsch weit da hinunter, zweihundert Schritt und mehr, zu weit für den Schuss auch übers Dreibein. Und grad’ auf der Grenze der Sicherheitszone steht der Kerl mit seinem Gspusi. Ich schaue zu Felix hinauf, bedeute ihm: „Warten, schauen was er macht!“
Stichgrad ziehen Gaiss und Bock in die Wiese hinein, aber immer im hohen Gras. Dumme Sache das: wollen wir ihn frei haben, müsste er in den Gegenhang hinein – und damit in die Sicherheitszone rund um die Voliere in Cherry Tree Hill. Oder er zieht unter uns durch, kommt ein wenig zu uns herauf, da wären dann sicher ein oder zwei freie Stellen im hohen Gras. Würden ihn aber die längste Zeit nicht sehen, permanent still stehen hieße das und ungeschauter zuwarten. Obendrein könnten beide auch hinten hinaus, grad’ in dem Eck, wo Mixie’s und der namenlose Wald zusammenstoßen. Mit dem Blatter ist auch nichts zu wollen: die Gaiss da unten ist sichtlich eine Schmale, das Hölzl bleibt in der Tasche. Hier heißt’s harren – aber nicht lang. Irgendwas läuft dem Bock da unten quer, irgendetwas stört ihn. Wir können es nicht sein, gut gedeckt steht Felix gegen den dunklen Waldrand regungslos, ich sitze im hohen Gras, kein Lüftl regt sich. Trotzdem brummelt der Alte da unten vor sich hin, fängt richtig an zu schrecken und begibt sich, gefolgt von seiner Gaiss geschlossenen Spiegels und gemessenen Schrittes in den Gegenhang und dann ums Eck aus unserem Blickfeld. „Was hat den jetzt so gestört?“ frage ich Felix. Der schaut mich groß hinter seiner Büchse an und zuckt mit den Schultern. Sollte vielleicht ein Anderer, ein Stärkerer gar, einer mit mehr Hausrecht und Handfestigkeit zu dessen Aufrechterhaltung im Wald drin stecken? Wir warten noch ein paar Minuten zu. Wieder blitzt es rot am Waldrand unten zu uns herauf: das Glas lässt auf dem Haupt nichts erkennen, aber das Gefühl sagt: Bock! Das Reh zieht langsam in unseren Hang hinein und ist alsbald überriegelt. Bock oder Gaiss? Mit Sicherheit nicht zu sagen, aber das Gefühl, der erste Eindruck…
Ich nehme den Kitzruf aus dem alten, grünleinenbezogenen Brillenetui meines Großvaters. Drei, vier Töne, nicht zu leis, zu laut auch nicht: Bewegung im Gras, unten an der Hügelkante. Das Stück zieht langsam, misstrauisch fast unter uns her, nur ganz sacht schräg auf uns zuhaltend. Im Glas ist es mir für einen Sekundenbruchteil, als wäre da eine Stange nur zu sehen, lang wie mein kleiner Finger und ebenso stark. Kann aber auch ein Grashalm gewesen sein in dem dichten Zeug. Gut hundertzehn Mannschritte zum Stück, es verhofft in guter Deckung. Der Boden ist wüchsig hier, das Gras an der Stelle geht mir bis zum Kinn. Schaffe ich es, das Wild näher her zu locken, hält es seinen argwöhnischen, halbschrägen Wechsel, dann kommt es direkt auf eine freie Stelle in der Wiese fünfzig Schritt stichgrad unter uns. Nur jetzt nichts falsch machen, denke ich. Ein Blick zu Felix, ein Nicken. Er nimmt die Büchse in Halbanschlag, legt den Lauf aufs Dreibein. Ich blatte leise und vorsichtig weiter, lenke den Ton so weit es geht nach rechts, schirme ihn zusätzlich mit der Hand zum Wild hin ab. Es soll die Quelle nicht hier bei mir, sondern einige Schritt weiter weg vermuten. Und offensichtlich fällt das Stück darauf herein langsam, immer wieder verhoffend, äugend, sichernd zieht es unter uns durch. Jetzt kommt das Haupt in eine Lücke. Glas braucht es keines mehr: ein fingerlanges Stängel auf dem Haupt, eines nur. Felix sieht mich an, ich forme mit den Lippen: „Jahrling, schießen!“. Er nickt.
Immer noch ist das Böckel vom hohen Gras gedeckt. Jetzt steht es nur noch wenige Meter vor der Freifläche und sichert verhoffend herauf. Ich kauere mich reglos ins Gras, Felix steht wie zur Salzsäule erstarrt. Der Jahrling muss irgendetwas mitbekommen haben, in scharfen, abgehackten Bewegungen geht sein Haupt auf und ab, scheinäsend. Jetzt zieht er im Stechschritt langsam in Richtung Freifläche, stetig weiter sichernd. Auf vierzig Schritte ist er heran, verhofft wieder, Armeslänge vor der Freifläche. Nur sein Haupt ist zu sehen, und jetzt merke ich, dass der Bock nicht auf uns heräugt, sondern auf eine Stelle rechts neben uns. Langsam drehe ich meinen Kopf in die vom Jahrling angezeigte Richtung: fünfzehn Schritt neben uns steht ein starker, alter Bock! Er muss von hinten, aus dem Wald heraus aufs Blatt gekommen sein. Hoch reckt er den Träger, steckt den Windfang nach oben, windet, sichert. Zwischen seinen Lauschern sehe ich nur eine einzige, starke Stange. „Felix: neben uns!“, will ich meinem Schützen zuzischen, da bricht der Schuss. Der alte Bock springt in hohen Fluchten ab, ich reiße den Kopf herum: der Jahrling saust in gestreckter Jagd in Richtung Wald. Felix schüttelt den Kopf: „Gefehlt!“ – „Wen, den Jahrling oder den alten?“ – „Wie: Wen?“. Er schaut mich völlig konsterniert an, und will erst nicht glauben, dass da ein alter, starker, abnormer Bock neben uns stand, und als ich ihm erzähle, dass wir ganz offensichtlich zwischen zwei echten Einstanglern standen, Jahrling und Altbock, sehr wahrscheinlich Vater und Sohn, da sehe ich in seinem Blick nur ein Wort: „Jägerlatein!“. In dem Moment schreckt es hinter uns im Wald laut und sehr verärgert auf.
Der Jahrling war tatsächlich gefehlt, die Fluchtfährte stand klar im hohen Gras. Bis zum Waldrand hin, und auch dort an den dichten Sträuchern und Ranken war kein Tröpflein Schweiß zu finden. Und trotzdem war es ein reicher Abend, in dessen letzten Licht wir heimwärts gingen, erstaunt vom Erlebten. Zwei echte Einstangler und einer mit einer gebrochenen Stange so nah beisammen! Den mit der gebrochenen Stange erlegte Jaap am Tag nach unserer Abreise. Die beiden echten Einstangler sind bislang nicht mehr gesehen worden. In Mixie’s wird es nächstes Jahr spannendes Jagen werden.
*
Das Wetter hatte umgeschlagen: die Temperaturen waren nur wenig gesunken, aber das Revier lag unter schweren Regenwolken, die sich unablässig in kürzeren oder längeren Schauern leerten. Dazwischen dampfte es schwül aus den Hecken und Wiesen. Sämtliche Blattversuche blieben ergebnislos, das Wild steckte in den dicksten Dickungen, hin und wieder ließen sich unterm Trauf Bock oder Gaiss blicken, beizukommen war ihnen aber nicht. Zu dritt waren wir an diesem Abend losgezogen: Georges, Felix und ich. Das Pürschen wollte keinem von uns mehr schmecken, jeder hatte sich einen mehr oder weniger gut gedeckten Hochsitz ausgesucht, und dort wollten wir geruhsam den Abend verbringen.
Mein Sitz in einer alten, breiten Hecke, deren wenige Bäume einstmals zahlreichen Krähen
Nistplatz gaben und dir drum „Rookery“ genannt wird, mein Sitz lag dem Haus am nächsten, und drum setzten die beiden mich dort ab. Ich sammelte noch mein Zeugs vom Rücksitz ein, als Felix, vom Beifahrersitz aus eine schräg vis á vis liegende Wiese abglasend, Anblick meldete. Tatsächlich stand am unteren Ende dieser steil abfallenden Wiese, die an drei Seiten von Wald umschlossen ist, ein schwacher Jahrling: schwach an Wildbret, auf dem Haupt ein zwar lauscherhohes, aber dünnstangig und schwach verecktes Gabelpärchen. Georges sah mich an, und mit den Worten: „Ich würde vorschlagen, Du gehst ihn an und schießt ihn“ zog er sein Spektiv heraus. „Und nimm das Walkie Talkie mit“. Ich kenne seine Vorliebe, sich von anderen eins vorpürschen zu lassen, schon zur Genüge, die Vorteile eines Funkgerätes im hohen Zeug ebenfalls. Und da ich ohne ihn nie in dieses prachtvolle Revier gekommen wäre, gab ich keinerlei Widerworte, packte Büchse und Dreibein und dackelte los.
Durch die Wiese führt ein Fahrweg herab, an dessen Rändern einige wenige schwindsüchtige Weißdornbuschen stehen. Einen davon brachte ich als optische Deckung zwischen mich und den Jahrling. Zum Fahrweg waren es vielleicht hundertfünfzig Schritt, der Bock mochte noch einmal weitere achtzig davon in der Wiese stehen. Ich kam problemlos an meinen Stand, stellte mein Dreibein, packte meine Ferlacherin obenauf und gab mit dem Blatter ein paar helle Töne. Der Jahrling ging sofort drauf ein, zog halbschräg her und bei zwanzig Schritt bekam er die Kugel auf den Stich. Das Zeichen war wie im Bilderbuch: mit allen vier Läufen schnellte der Bock hoch übers Gras hinaus, strich mit den Hinterläufen eine perfekte Kapriole Hoher Schule, und die letzen Fluchten waren nur noch Verlöschen. Ich ließ die abgeschossene Hülse aus dem Lager gleiten, hing meine Büchse ans Dreibein und fummelte nach einer beruhigenden Zigarette. Immer noch – und auf immer, hoffe ich – zittern mir nach gelungenem Schuss aufs Wild die Hände wie Espenlaub. Ich hatte die Gewünschte eben in Brand gesteckt, als sich Georges über Funk meldete: „Nächster Auftrag! Diagonal durch die Wiese nach oben, da, wo die hohen Lärchen an Eric’s Trieb stoßen, stehen Gaiss und Bock. Ich glaube, der ist alt. Schau ihn Dir an und wenn er passt, schieße ihn.“ Schöner Auftrag: von mir zum Wild waren es gute dreihundert steile, deckungslose Wiesenmeter, und noch dazu saß mein bislang streckeloser Jagdgast mit im Auto. „Schick mir Felix her, ich bring ihn auf den Bock zu Schuss. Irgendwie.“ – „Nein, die Gaiss sichert dauernd zum Wagen herunter, wenn Felix jetzt aussteigt und zu Dir kommt, dann sind beide weg. Dein Auftrag, Dein Bock!“
Mein Spektiv lag da, wo ich aus dem Auto ausgestiegen war, in der Wiese, Mit dem kleinen Pürschglas war der Bock auf die Distanz nicht sauber anzusprechen. Ich musste also wohl oder übel in die hohe, regennasse Wiese hinein. In tiefer Gangart zog ich los. Nach etlichen dreißig Gängen wurden die Halme niedriger, und ich pürschwatschelte im Entengang weiter. Endlich hörten die Halme völlig auf, und vor mir lag eine sauernassgallige Seggenblöße mitten in der Wiese, wohl fünfzig Schritt im Geviert. Auch da musste ich durch. Die Wiese bildete an dieser Stelle eine Wanne, daher auch die Staunässe, und erst am anderen Ende stieg das Gelände wieder an, war Deckung gegeben. Ich ging wohl oder übel von tiefer in tiefste Gangart und kroch auf allen vieren durch das Nasse Zeug, wohl wissend, dass vorne zwei Lichterpaare zu beachten waren, denen dieser dunkle Klotz, dieser prähistorisch übergroße Maulwurf irgendwann auffallen würde, und dass zudem hinter mir zwei Spektiv-Linsen auf mein nicht grade geringes und optisch wirkungsvoll gen Himmel gerecktes Hinterteil gerichtet waren. Ich weiß aus nachmaliger Erzählung, dass ungefähr in diesem Moment Georges zu Felix bemerkte: „Das war es, was ich sehen wollte: er ist viel zu dunkel gekleidet, der Kerl sticht aus der Wiese wie ein Fußball auf einem Billardtisch. Das Tarnzeug muss heller sein.“
Während also so über meinen Auftritt als Versuchskaninchen in Sachen optimaler Tarnung gefachsimpelt wurde, hatte ich die nasse Stelle glücklich hinter mich gebracht. Bock und Gaiss hatten mir zudem den Gefallen getan, aus ihrem Eck unterhalb des Waldrandes ein gutes Stück nach rechts und damit in meine Richtung zu ziehen. Aus den anfänglichen dreihundert waren inzwischen einhundertundfünfzig Meter geworden. Noch dazu stand das Wild jetzt in einem überhoch bewachsenen Wiesenteil, für mich nicht sichtbar – aber damit war auch ich für das Wild gedeckt. Ich hatte eine grobe Ahnung, wo die beiden hinziehen würden: hinter den hohen Lärchen lag eine weitere, lange und sehr äsungsreiche Wiese. Der Wechsel dorthin führte stichgerade vor mir oben durch den Wald. Ich verkürzte meine Entfernung dorthin um noch einmal gute dreißig Meter, fand eine leidlich offene Stelle und richtete mich dort für einen kniekauernden Schuss übern Stock ein. Es war eine rechte Bußübung: mein signifikantes Körpergewicht unterzog Meniskus, Patellasehne und Oberschenkelmuskulatur einer intensiven Dehnungsprobe. Und vom Wild war nichts zu sehen, außer hin und wieder rote Schemen im Gras. So kauerte ich da, ein viel zu dunkler Fleck in der ausgeblichenen Wiese und harrte aus.
Die Gaiss wurde als erste wieder sichtbar, der Bock zog ein gutes Stück hinter und unter ihr im hohen Gras einher. Im Glas waren weder Figur noch Haupt zu erkennen, geschweige denn anzusprechen. Ich versuchte es mit dem Blatter, hoffend, dass der Bock vielleicht aufwerfen und sich zu sehen geben würde. Wunschvolles, aber unerfülltes Denken war das. Nur die Gaiss reagierte, blieb stocksteif stehen, sicherte zu mir hinunter und fiel sofort ins Scheinäsen. Sie hatte mich dunklen Fleck eindeutig registriert, und nachdem an dieser Stelle noch nie ein Busch gestanden hatte, nach allen Regeln der Wald- und Wiesenlogik auch in so kurzer Zeit kein solcher dort hätte gewachsen sein können, war ihr anzunehmen, dass diese Sache nicht völlig koscher sei. Im Zeitlupentempo ließ ich mich seitwärts ins Gras sinken, das Glas immer noch vor Augen.
Die Gaiss beruhigte sich nur langsam, dafür kam der Bock nun scheibenbreit ins Freie gezogen. Das half mir wenig. Stand er nun frei, war ich dafür bestens gedeckt. In meiner Seitlage wand und reckte ich mich, so gut es ging, um irgendwo zwischen den Halmen vor mir halbwegs freien Blick zu bekommen. Doch als mir das endlich gelang, war er wieder im hohen Zeug verschwunden. Wenigstens konnte ich mich wieder aufrichten und nahm also erneut meine Kauerstellung ein. Endlich wurden Haupt und Träger des Bockes in der Wiese frei, und im Glas sah ich: jagdbar, nicht uralt, fünfe eher denn sechse. Auslage gut, Perlung und Vereckung ebenso. Vier Finger über Lauscher, das sind bei meinen Händen acht Zentimeter, vierzehn davon misst der Luser im Durchschnitt, sag zwei- oder vielleicht vierundzwanzig Zentimeter Sehnenhöhe. Schussbar jedenfalls, speziell nach dieser Pürsch. Doch wäge man das G’wichtl des Bockes nicht, es sei denn, man halte es in Händen. Und davon trennte mich viel hohes Gras, das der Bock vor seinem Leben hatte. Ich wartete mit erst schmerzenden, dann gnädigerweise tauben Haxen weiter, probierte Anschlag und Schuss. Hundertzwanzig Meter da hinauf, nicht eben kurz für die verkrampfte Haltung, in der ich jetzt schon ziemlich lange ausharrte. Die Gaiss zog langsam Richtung Wechsel und Wald. Ich hoffte, dass der Bock endlich frei würde, aber er fühlte sich in seinem Wiesenkabinett recht behaglich und dachte nicht daran, sich von Deckung und den saftigen Kräuteln im Unterwuchs zu trennen. Wenn er sich bloß nicht niedertäte – alles, nur das nicht!
Madame wollte offenbar endlich wie verabredet dinieren gehen, wohl auch mit der Option eines kleinen Schäferspielchens zwischen Vorspeis und Hauptgang, optional ein weiteres zum Dessert. Aber der Auserkorene machte keinerlei Anstalten. Musste also abgeholt werden, der Privatier, der faule! Die Gaiss kam wieder zum Bock zurück und animierte ihn zum umgehenden Aufbrechen. Ich hatte die Büchse längst im Gesicht, das Absehen folgte dem immer noch grasverdeckten Leben, und als grade noch Halmspitzen davorstanden, ließ ich den Tupfer gehen.
Es kam, wie es aus dieser krampfverzwickten Haltung heraus auch zu erwarten war: ich verriss den Schuss, und die Kugel fand ihr Ziel weit über dem Wild im Gelände. Bock und Gaiss riss es zusammen, hochaufgereckt, scheibenbreit, freien Blattes stand er jetzt da. In Blitzesschnelle war die Büchse gebrochen, die Hülse aus dem Lager geglitten, der Lauf neu geladen. Jetzt alles zusammennehmen, ins Blatt fahren und Schuss! Der Kugelschlag war deutlich zu hören, mit tiefem Haupt flüchtete der Bock im Halbkreis hangab und brach nach zwanzig und etlichen Gängen zusammen. „Well done!“ quäkte es aus dem Funkgerät an meinem Gürtel. Am ganzen Körper zitternd entfaltete ich mein Fahrwerk aus, stand zitternd und schwankend auf tauben Beinen da und wusste, dass unter den wenigen „Bockdoubletten“ meiner Jagdtage keine war wie die, die ich eben erlebt hatte.
Mein Dreibein ließ ich aufgefaltet da stehen, wo ich gekauert hatte. Denn im hohen Wiesengras sind Anschuss und gestrecktes Wild hundshäutern schwer zu suchen, hat man nicht zumindest den Bezugspunkt zur Schussposition und die Entfernung als Triangulierungswerte. Georges hatte mich per Funk verständigt, dass er mit dem Auto heraufkommen würde, weil er Hündin Hera die kurze Totsuche gönnen wollte. Ich sollte ihn halberwegs treffen. Für Hera war es weniger eine Nasen- denn eine Pfotenübung, aber sie machte ihrem Herrn und Führer die Freude. Der Bock ist ein braver, an der Wand der Lieblinge wird er eine gute Figur machen und mich immer an diese Kniewallfahrt in St. Huberto erinnern.
Als wir wieder unten am Ausgangsort waren, wartete Felix dort auf mich, und gemeinsam klaubten wir den Jahrling aus der Wiese auf. Ich hatte kein gutes Gewissen bei der ganzen Sache: er war von mir auf Böcke eingeladen, ich schoss ihm zweie davon unter der Nase weg und mein Jagdgast war zum Zuschauer degradiert. Doch sein „Waidmanns Heil!“ kam so herzehrlich, sein Händedruck so fest, sein Augenblitzen so freundlich: ich habe mir geschworen, dass er so lange nach England kommen wird, bis er endlich mindestens einen guten Bock hat – und danach erst recht!
Die nächsten Tage brachten ebenso viel, wie die dem eben beschriebenen Abend vorangegangenen: Wetter und Wuchs machten alle Bemühungen zu Nichte. Böcke kamen auf weite Distanzen nur in Anblick, waren wir dann heran und das Wild sichtbar, dann war es nicht jagdbar, und war es jagdbar, dann hatte es sich so gesteckt in Kraut und Strauch, dass nichts zu wollen war.
Es folgt Teil 2
die Blattzeit ist um, schön war sie, schwer war sie, und um es bairisch zu sagen:
"Aus is, und gor is, und schåd is das wåhr is". Wobei das bestimmt nicht endgültig gemeint ist.
In alter Gewohnheit, weil es doch so einiges zu erzählen gibt danach, und weil dem ein oder anderen morgen im Büro ein bissel fad sein könnte: eine kleine Lektüre hier für Euch.
Und hier - für die, die es gedruckt lieber mögen - als Download.
Es gibt ein paar Bilder dazu auch, teils hier im Forum:
viewtopic.php?t=56733&postdays=0&postorder=asc&start=150
teils hier im Netz:
http://picasaweb.google.de/bq2210/Blattjagd09#
Viel Spaß Euch beim Lesen, ich hoffe soviel wie mir beim Schreiben!
WH
BQ
Afrikanische Blattereien
oder
Codename „Schneewittchen“
Um es gleich vorweg zu nehmen: ich war noch nie in Afrika. Leider kam immer etwas dazwischen – meistens ein an notorischer Schwindsucht leidendes Portemonnaie. Aber ich habe es fest vor. Eines feinen Tages.
Dennoch: eine grobe Ahnung davon, was Jagen in Afrika sein kann, habe ich möglicherweise doch, erworben auf harten Pürschen im englischen Juwelenrevier. Schon im zweiten meiner bald schon zehn südwestenglischen Jagdjahre, als ich nach zwar schuss-, aber nicht erfolgloser Sommerabendpürsch durchs brusthohe, sonnengebleichte Gras dem Manor House zuging, die untergehende Sonne den Abendhimmel in alle Schattierungen von Purpur bis Glutrot hüllte, die Bäume von Abbotts Wood und Three Corner Plantation Scherenschnitten gleich gegen das Hohe Licht standen, als von Westen her ein heißer Wind über das Feld her zog, Schmielen, Wendel und Goldhafer sich leise wiegten, da fielen mir Robert Ruarks Worte ein, wonach Tanganjika zu manchen Zeiten recht sehr an die gentle rolling hills in England erinnere, und dachte mir – und denke es heute noch: so könnte es sein in Afrika.
But first things first. Die Blattzeit des Achter Jahres war schlicht verheerend ausgefallen. Angekündigt hatte sie sich freilich formidabel: Das Thermometer sank auch nachts kaum unter die Grenze von 25 Grad nach Celsius, tagsüber lagen die Werte gute 10 Strich höher. Der Mond war im Abnehmen und würde zur Hohen Zeit, in des Erntemondes ersten Tagen nicht zu sehen sein. Und merkt der liebe Jäger wohl und gibt der Waidmann acht, verwirrt den Bock der Sonne Glut, den Hirsch die Nacht: eben dieser Sonnenglutverwirrung würde der Bock dieses Jahr nicht durch nächtliches Treiben unterm vollen Mond entgehen können. Zudem hatten Freunde mich großzügig eingeladen, von ihrem niederrheinischen Revier – wenn auch bedauerlicherweise in Abwesenheit der Jagdherrschaft – gründlich Gebrauch zu machen und nebenbei die dortigen Jäger und Jagdgesellen ein wenig ins Blatten einzuweisen. Zu Jakobi fuhr ich los, im Koffer obszöne Munitionsvorräte, im herzen nicht minder hohe Hoffnung.
Als ich am Niederrhein eintraf, lag die Hitze wie eine bleierne Decke über dem flachen Land. Werte um 40 und deutlich mehr Grad machten die Jagd schier unmöglich, wurden wir überhaupt Rehwilds ansichtig, dann lag es niedergetan am Trauf im hohen Farn und war durch keinen Ruf und Ton zu bewegen. Am vierten Tag dann brach das Wetter in Sturzfluten, die Temperatur sank um mehr als die Hälfte ab, und mit der Blattjagd war es - für dieses Revier zumindest – vollends vorbei. Wir versuchten es dennoch weitere Male, aber so klug gewählt die Orte auch waren, so deutlich Plätzen und Fegstellen da waren: Bewegung auf den Ruf hin gab es kaum. Einen Bock, einen schwachen Jüngling, bekam ich mit mehr Müh als Not – und etwelche Tauben am Strich, nachdem ich für einen Nachmittag Büchse gegen Flinte getauscht hatte.
Für England und die normalerweise gemäßigteren Wetterlagen dort rechnete ich mir bessere Chancen aus: im Mai hatte ich eine Reihe guter und erntereifer Böcke bestätigt, ein jahrealter Jagdfreund und stets großzügiger Jagdherr war eingeladen, sich daran gütlich zu tun. Das ehedem hundshäutern schlechte Mengenverhältnis von anfangs vier Gaissen auf einen Bock hatten wir durch scharfe Bejagung des weiblichen Wildes auf Rieglern in den letzten vier Jahren in Griff bekommen. Es sah mithin alles nach einer sehr versprechenden Blatterei aus.
Aber kaum hatte ich die Halle des Hauses in Charlton Abbotts betreten, kaum war mein Blick auf die dort traditionell aufgestellte Revierkarte, worauf mit nummerierten Nadeln die Erlegung sämtlicher Böcke aufgelistet war, fiel mir das hoch hoffende Herz hosenwärts, und zwar ebenso schnell wie direkt: die Karte war gespickt mit den besagten Nadeln, und hatte ich nach der Maijagd die letzte mit Numero Sieben eingesetzt, zeigte mir die höchste Nummer auf der Karte, dass der Bockabschuss so gut wie erfüllt war. Freunde des Jagdherrn hatten – nun ja – ein wenig aufgeräumt. Dazu hing der Nebel dicht in den Feldern und Tälern, das Gras stand brusthoch, war klatschnass und bleischwer: die Blattzeit 08 war schlicht verheerend. Mit mehr Müh als Not kamen ein paar Böcke zur Strecke, darunter der bislang beste des Revieres, ein weiterer, fast ebenso guter schier Abnormer, den ich am ersten Tag in einer der Dickungen gesehen hatte, die aufgrund Lage und vorherrschender Windrichtung weniger als Geländemerkmal, sondern als natürlich gewachsene Lebensversicherung gelten können. Allerdings kommt seit einigen Jahren ein junger Niederländer immer wieder ins englische Revier, der allein schon aus Instinkt und Gefühl mehr übers Rehwild vergessen hat, als ich jemals lernen werde. Jaap setzte sich an besagter Dickung an und schoss tatsächlich, bei strömendem Regen und schlechtem Wind diesen Bock innert einer Viertelstunde. Den Blatter hatte er noch nicht einmal dabei.
Mir selbst gelang es, einen ganz alten Kund’ von seinen irdischen Sorgen zu erlösen. Der hatte seinen Einstand ursprünglich in einem an fünf Hektar großen, schmalen, steilhanggelegenen und stark verwucherten Waldstück. Und als wäre er da drin nicht so schon kaum zu erwischen gewesen, hielt er sich noch eine persönliche Leibwache in gestalt einer uralten Geltgaiss, wahrscheinlich sogar seiner verehrten Frau Mama, die, egal wie gekonnt und nach allen Regeln des Handwerks man sich auch hineinpürschte in den Krautwald, sofort ein gotteslästerliches Schimpfkonzert anhub, und der Monsieur Capreolus empfahl sich still in seinen Brombeerhag. Jetzt aber, auf seine alten Täg, hatte ihm offenbar ein jüngerer Siedler den Einstand verleidet: der Alte war mehrfach auf einer halbrunden Schulter zu sehen, die man aber nur von weit unten im Tal überhaupt einsehen konnte. Zweimal hatte ich versucht ihn anzupürschen, zweimal war ich auf knappe zwanzig Schritt an ihm, beide Male war das Gras zu hoch oder das Gelände zu kupiert, um mehr zu sehen als die Spitzen seines G’wichtls. An einem vollends verregneten Tag gegen Ende meines Aufenthaltes hab’ ich es dann mit einem Blatt-Trick probiert.
Das Schulbuch lehrt, wie man sich seinen Blattstand zu suchen hat, wie man dann dort sich zu verhalten hat, und vor allem wie lang man sich dort aufzuhalten hat, nämlich sehr lang. Nun habe ich ein oder zwei Gaissen in den diversen Blattzeiten meiner Jagdjahre gesehen, und die hielten sich, wenn sie suchten, nur höchst selten länger als einige Minuten an einem Ort auf. So hielt ich es hier auch. Ich pürschte mich ins äußerste Ende seines ehemaligen Heimstattwaldes hinein, wo linkerhand hangauf ein paar hohe Buchen standen. Da drunter war es schön raum und trocken vor allem, hier tat ich ein paar Pfiffe. Drei oder vier Mal hat es weich in den Bestand hineingeschmachtet, da kam es schon doppelt rot und wie die Feuerwehr einher: Madame, und im Schlepptau ein Galan – leider aber nicht der Alte Herr, sondern ein herzig dreinschauender und sehr sauber aufhabender Jüngling, dem das Wams noch stramm saß wie das Trikot eines Trapezschwingers. Seine bella inamorata führte ihn geradezu bezaubernd am Näsel herum in Kreis und Achten, und wollte er endlich zu Werk steigen, tat sie ein oder zwei Schritt, dass er wieder herab musste – das aber so abrupt, dass der junge Casanova tatsächlich ein ums andere mal mit abgewinkelten Vorderläufen, ausgestrecktem Träger und selten dummem Gesichtsausdruck in die Waldstreu plumpste.
Der Buchenheister, in den ich mich gedrückt hatte, wackelte in meinem unterdrückten Lachen, als würde er heftigst befegt, tatsächlich tat der Junior, wenn er sich wieder aus seiner schmachvollen Fallposition berappelt hatte, mit ernst-investigativem Blick drei und vier Stechschritte auf mich zu, wurde aber immer wieder von seiner Lehrerin in Liebesdingen abbefohlen, bis endlich beide sich hangab in ein blickdichtes Staudenseparee empfahlen.
Ich blattete noch ein Gsetzl, und pürschte mich dann weiter hangauf, dem Waldrand zu. Dort, gedeckt in einer Hecke, blattete ich ein wenig in die weiten und nassen Wiesen hinein, wartete fünf Minuten zu, bummelte die Hecke hinab ins Eck, pfiff dort ein wenig unter einer alten Eiche herum, und so zog ich Posto für Posto, eben wie eine bummelnde Gaiss, in der Landschaft herum. Den letzten Stand wollte ich am oberen Eck eben jeder Wiese machen, in der der Alte mehrfach gesehen worden war. Vom Wald weg zog sich da eine dichte, breite Hecke in die Wiesen hinein, auf sechzig Schritt zweigte eine weitere den Hang hinab. Vor mir Wiese, hinter mir Wald, und anderseitig der Hecke ein Weizenfeld. Zwei, drei leise Blatttöne, schon kam es langsam und falbrot unten aus der Hecke heraus. Tiefen Hauptes, grauen Gesichts zog der Bock misstrauisch und griesgrämig in die Wiesen hinein. In einer alten Fahrspur, in der das Gras nicht ganz so hoch stand, hielt ich ihn mit einem lauten Fieper an. Den Schuss hat er nimmer gehört. Das G’wichtl war das eines alten Rücksetzers, die Enden keine Enden mehr, sondern Leisten mit kleinen Vorsprüngen, deren aber ungerade acht. Die Stangen nicht zu Spießen verdünnt, sondern flach und beinah schaufelartig ausgebreitert, die Rosen fielen tief über die Stöcke in die Stirn. Ich war’s den Bock zufrieden und froh, aber die gescheiterte Blattzeit war ich leid und hoffte auf mehr Glück und Gunst seitens der Heiligen Petrus und Hubertus im nächsten Jahr.
Wie gut sich die folgende Maijagd anließ, das ist in der Geschichte vom Wermutstropfen entsprechend geschildert. Auf die Blattzeit fieberte ich wahrhaft hin: ich hatte das Revier im Mai als letzter verlassen, in der Zwischenzeit war kein einziger Schuss dort nach Rehwild getan worden: es musste einfach gut werden! Einen Freund hatte ich auch geladen, der mir durch allerhöchste Protektion, sprich durch die beste Ehefrau von allen (Kishon behauptete immer, es wäre die seine gewesen. Ich weiß, dass es die meinige ist.) empfohlen wurde: „Der passt da gut rein, nimm doch den Felix mal mit!“. Und der Felix war dann auch umgehend Feuer und Flamme, riskierte größte innerfamiliäre Krisensituationen durch Absage eines Gesamtsippenopernwochendendes in Verona, und sagte postwendend zu. Ich mag Männer, die Prioritäten zu setzen wissen! Ich hatte uns für eine Woche in England angemeldet und dazu noch – auch um, weil mein bisheriger Taubenguide keine Plätze mehr frei hatte, einen mir noch unbekannten Ringeltauben-Spezialisten zu erproben – einen Tag auf die blaugrauen Woodies gebucht. Die der Jagdwoche vorlaufende Korrespondenz machte Kurierdienste froh. Zu all dem kam noch eine überaus großzügige Einladung ins Hannöversche: Axel, unbeirrbarer und felsenfestverlässlicher Weggefährte in der Organisation von Tontauben-Wettbewerben und Saujagden, hatte Sehnsucht nach dem Wörlitzer Sauhaufen und bat die gesamte Mischpoche in sein Pachtrevier, um gemeinsam und würdig die kürzlich erfolgreich stattgefunden habende Geburt seiner beiden Töchter geziemend zu feiern. Felix und ich rechneten hin, terminierten her, routierten und rotierten und kamen endlich zum einzig möglichen Schluss: Selbstverständlich auch da hin!
All die herrlich verstrahlten, verrückten, lieben Kerle wieder zu sehen: allein das war schon höchstes Fest. Lachen, am Teich herumlümmeln, Würmer baden, Blatter ausprobieren, Wildwürscht über heißen Kohlen. Und dann, am Abend gemeinsamer, geruhsamer Ansitz auf den roten – oder schwarzen, weil dort vorkommend – Bock. Ich hatte mich auf meinem Drückjagdbock mitten auf dem Acker, den Wald linkerhand auf 100 Schritt, besonders gemütlich eingerichtet, weil ich wusste, dass das Jagen in den kommenden Tagen weitaus weniger bequem sein würde: in England läuft es aus der freien Pürsch im hohen Kraut und Gras. Die Sonne wärmte mir den faulen Pelz, die Büchse lehnte geladen an der Brüstung, die Kamera lag schussbereit neben mir auf dem Sitzbrett. Ein paar Ringeltauben kamen vom Feld dahergeflogen und suchten sich die etwas höheren Bäume zur Ruhstatt aus, ein Bussard strich vorbei, weit vielhundert Meter rechts von mir steckte eine Gaiss den Windfang aus dem Mais. Durchs Glas, durchs Spektiv und durchs Objektiv hatte ich sie eingehend studiert, als ich mich wieder meinem eigentlich zugedachten jagdlichen Wirkungskreis widmete. Der junge Wald zur Linken mag an 3 ha groß sein und formt ein sauberes Rechteck, dessen schmale Seite meinem Stand zuliegt. Eine Wiese zieht sich vom Wald auf zweihundert Schritt Breite und fünfhundert Schritt Tiefe dahin, am unteren Ende stehen hohe Eichen, darin auf einem Hochstand aufgepflockt der Standnachbar, der beiden Wörlitzer Axel südlichere, saß. Mein Drückjagdbock lag auf einem Brachstreifen, hinter mir auskeimende Winterfrucht, die sich zu einem Gräblein hinzog, danach eine von hohen Eichen und Buchen gesäumte Wiese.
Es mochte auf einhalb sieben hingehen, als an der langen Waldkante zur Linken das rote Leuchten im Gras war, das mir um diese Jahreszeit den Atem höher treibt: das Glas ließ eine Gaiss erkennen, das Spektiv wies sie als jung, aber nicht jahrig, und nicht führend aus. Ich machte ein paar Bilder von ihr, und als ich die Kamera wieder ablegte, war ein zweiter, roter Fleck in der Wiese. Diesmal war’s ein Bock, ein Jahrling: was den Bau angeht, so kann ich wenig darüber sagen im fremden Revier, schwächer als die Gaiss schien er. Gäbelein hatte er, knapp an den Lauscher hoch. Nun ist das gerade mit den Jährlingen so eine Sache: generell schon, und besonders in fremden Revieren, deren Wildstand ich nicht kenne. Aus den Trophäen in der Jagdhütte der beiden Bestände aber wusste ich mehrere dieser Güteklasse, und zudem hatte mein heutiger Jagdherr uns alle anwechselnden Böcke freigegeben. Somit war auch dieser Jahrling „passend“. Ans Schießen war aber für mich vorerst kein Gedanke zu geben: das Böckle stand auf junge zweihundert Meter in der Wiese, und zudem war noch überhaupt nicht klar, wohin er sich würde wenden wollen – zum Standnachbarn, zu mir oder sonst wohin. Ich war auch ums Nicht-, oder besser ums Noch-Nicht-Schießen nicht bös: Jahrling und Gaiss zu beobachten war einmal mehr ein herrliches Spektakel.
Der Bub bummeläste sich betont unbeteiligt durch die Wiese immer näher an die Gaiss heran. Zupfte sich hier einen Halm und da eine Blüte, tat so, als wären Mädels furchtbar uninteressant und eigentlich weit unter der Würde seiner Beschäftigung, schielte aber immer aus einem Licht zur Madame hinüber. Getreu der Lebensweisheit, wonach die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten den Zickzack-Kurs bedingt, kam er so der an sich ja völlig nebensächlichen Dame immer näher. In der starken Vergrößerung des Spektivs konnte ich beobachten, wie dem Kerl der Windfang immer weiter offenstand, und er den Triebbefriedigung verheißenden Duft, den die Gaiss sichtlich verströmte, immer tiefer einsog. Irgendwann stand das Böckle so massiv unter hormonellem Druck, dass er sich Mal um Mal mit dem Lecker über den Windfang fuhr, grad so wie das Jungvieh auf der Alm es macht. Mit anderen Worten: Der Knabe war hoffnungslos geil. Der Gaiss war dieser Umstand nicht entgangen. Sie ließ den Casanova in Ausbildung immer grad auf wenige Meter an sich heran, dann trippelte sie weiter, machte auch ein oder zwei grazil-kokette Fluchten und wartete dann, bis der Jahrling sich wieder herangezaudert hatte. Irgendwann aber gewann die Natur endgültig die Oberhand, und der Knabe trieb die Gaiss in engen Zirkeln und Fluchten nach allen Regeln der hohen Kunst und Schule. Womit er aber eindeutig nicht gerechnet hatte war, dass die Dame das Spiel ganz offensichtlich aus Erfahrung schon kannte. Mitten im schönsten Zirkeln legte sie einen scharfen Stop ein, so dass der Jüngling pfeilgrad an ihr vorbeischoss. Kaum war er verdutzt stehen geblieben, fing nun die Gaiss ihrerseits an, dem Frechdachs Bescheid zu stoßen und trieb rollentauschend nun ihn vor sich her. Ich hatte Gott Gedankt die Kamera mit guter Optik und bei gutem Licht darauf, und schau ich mir heute das eine Bild dieser Situation an, sehe ich den konsternierten Gesichtsausdruck des Jahrlings, dann muss ich immer noch darüber lachen.
Irgendwann hatte Junior verstanden, dass er zwar als Tisch- nicht aber als Bettgesell willkommen sei, und so ästen Gaiss und Bock einander vertraut, doch stets mit respektvollem Abstand sich langsam aber sicher in meine Richtung herüber. Man mag mich jetzt grausam heißen, oder man mag den Standpunkt vertreten, dass das eben gehabte Erlebnis in dem Jährling ein die spätere Ausübung gesunden Sexualtriebs schwer beeinträchtigendes juveniles Trauma ausgelöst haben könnte, woraufhin ein korrigierender Eingriff deutlich indiziert gewesen: als er 70 Meter hinter meinem Sitz breitstand, hab ich ihn ganz prosaisch gemeuchelt. Der erste Schuss ging zwar fehl, weil ich auf kantigen Bohlen kniend über die etwas sehr hoch gezogene Rückenlehne des Sitzes schießen musste. Aber ich habe frühzeitig gelernt, meine ejektorlose Kipplaufbüchse ziemlich rasch nachzuladen. Gaiss und Bock standen scheibenbreit auf der Wintersaat, die zweite Kugel erledigte das, was die erste schon hätte tun sollen. Ich behielt den Bock noch einige Minuten im Auge, dann kam die Gaiss – offenbar doch eine leicht reizbare Dame – im Stechschritt bis auf knappe Wurfdistanz an meinen Stand heran. Zwei prachtvolle Portraitaufnahmen im Abendlicht hielt sie noch aus, dann konnte ich dank des schnellen Motors meiner Kamera eine schöne Fluchtstudien-Serie von ihr machen.
Ich lehnte mich auf meinem Sitzbankl zurück, besah mir den Abendhimmel und hörte mit zufriedenem Lächeln nach und nach bei den Mitjägern Schuss um Schuss brechen. Der Bocksommer hatte begonnen. Fünf Böcke kamen an diesem Abend zur Strecke, darunter auch einer von den dort beheimateten Schwarzen. Mein Nachbar hatte ihn im letzten Büchsenlicht erlegt. Gefeiert wurde an diesem Abend noch lange. Felix und ich stahlen uns aber halbwegs zeitig davon, denn mit Tau und Tag des Morgens brachen wir auf nach England.
Die Fahrt dorthin durch Holland und Belgien verlief zwischenfallslos. England begrüßte uns dagegen mit schwerem Verkehr und langen Staus, die aber allsamt dank der segensreichen Einrichtung einer Satellitennavigation gut zu umfahren waren. Am mittleren Nachmittag trafen wir sicher und wohlbehalten in Charlton Abbotts ein. Georges und Hera standen in der Haustür, Tristan kam die Treppe herab. Ranger, meinen lieben alter Hundefreund Ranger deckte schon der grüne Rasen hinterm Haus, und auf seinen Stein hatte Tristan die Worte setzen lassen: „Companion of a lifetime“ – „Gefährte meines Lebens“. Aber was watschelwuselte da hinter ihm die glatten Steinstufen herab? Nicht schwarz, wie mein alter Freund, blond dafür, zwar jung und unbeholfen noch mit grad vier Monden, aber mit genau dem gleichen Minenspiel wie Ranger begrüßte mich der junge Hund: mit dem ganzen Körper wedelnd, das Haupt vorgestreckt, die Lefzen hochgezogen grinste mich das Hundel an. „Simba. Rangers Enkel“ stellte mir Tristan seinen neuen Freund vor. Mir ging das Herz auf, und im Verlauf der Woche haben der Welpe und ich innige Freundschaft geschlossen.
Am frühen Abend brachen Georges, Felix und ich zu einer Erkundungsfahrt auf. Zum einen sollte Felix eine grobe Vorstellung von Lage, Wuchs und Begrenzung des Revieres bekommen, und ich wollte wissen, was an Bewegung zu sehen war, wollte eine ungefähre Ahnung vom Stand der Brunft und damit den Aussichten auf die Blattzeit bekommen. Wir nahmen uns den nördlichen Teil des Revieres vor, und da der Grenzumriss des Estates in Etwa einem alten, schwer verschafften Bergstiefel ähnelt, nenne ich diesen Bereich den „Schaft“. Tristan hatte für dieses Jahr eine der offenen Fasanenvolieren weiter in den Wald hinein verlagert, somit war Limehill für die Jagd auf Rehwild ex obligo, da rund um jede dieser großen, nach oben offenen Volieren eine Sicherheitszone von 200 Metern uns einzuhalten seit jeher geboten ist. In dieser Zone darf keine Büchse abgefeuert werden, und auch von außerhalb darf kein Stück Wild in dieser Zone mit der Büchse beschossen werden.
Felix und ich nahmen uns daher den unterhalb davon gelegenen Wald vor, Spoonley geheißen oder „Roman Villa Wood“, weil sich dort die Überreste eines Landhauses aus Zeiten der römischen Besatzung befindet, mit gut erhaltenen und wunderschönen Bodenmosaiken. Einmal mehr muss ich den britischen Verstand preisen: läge diese Villa in einem deutschen Wald, so würde umgehend ein Besucherzentrum mit Parkplätzen und Fressbuden errichtet, ob dies dem Grundstückseigner passte oder nicht. Hier dagegen waren die Mosaike nach Entdeckung kartiert, katalogisiert, photographiert, konserviert und anschließend sicher versiegelt worden. Wer sie sehen möchte, der kann die Bilder und Skizzen davon im Museum der nächstgelegenen größeren Stadt bewundern, der genaue Fundort wird der Allgemeinheit nicht bekannt gegeben. Zudem liegen die Überreste sicher geschützt im undurchdringlichsten Teil des Waldes, und da im Vereinigten Königreich kein freies Betretungsrecht der Fläche für jedermann existiert, da alle sich an einige wenige genau bezeichnete Wege zu halten haben und dies auch tun, sind Kulturdenkmal, Wald und Wild gleichermaßen vor den vandalisierenden Horden vorgeblich bildungshungriger Menschen geschützt.
Dieses Wäldchen druchpürschten wir, blatteten auch an zwei Ständen, da aber just in diesen Tagen ein Teil dieser Waldung der durchlichtenden Säge überantwortet worden war, nahm es mich nicht weiter wunder, dass mir aufs Blatt nichts ansprang. Wechsel, Plätzstellen und Fegemale gab es aber zu Hauf, und als wir in die staunassen Lagen des Waldes kamen, da war der Bewuchs von Hexenringen und Treibensachtern scher durchzogen. Felix bekam auf diesem Pürschgang eine erste Ahnung davon, was das Jagen in Charlton Abbotts bedeutet: schweres, langsames, konzentriert Schritt vor Schritt möglichst lautlos setzendes Gehen in störrischem, hohem Bewuchs. Nicht selten braucht man für die kurze Strecke eines guten Flintenschusses eine Viertelstunde oder gar noch länger. Leichte Kleidung ist völlig fehl am Platz: Brombeerranken, Klettengeschling, Distelwuchs und Schwarzdornhag machten sie rasch zu Fetzen. Fest muss die Kleidung sein, fest die Stiefel, und wasserdichte Gamaschen haben sich ebenfalls bestens bewährt. So dicht ist der Wuchs an manchen Stellen des Revieres, dass ein bestimmtes Tal sogar seinen Namen davon getragen hat: ein junger Jäger wollte es einmal druchdrücken, und schloff mit seinen nagelneuen Goretex-Hosen ins Gewachs. Als er auf der anderen Seite wieder herauskam, hingen ihm seine Hosen in Fetzen um die blutig gerissenen Beine, und seither heißt dieses kleine Tal „Goretex Gully“. Ich habe ein oder zwei Rehwildreviere bejagen und genauer kennenlernen dürfen. Ich wüsste keines, das schwieriger zu bejagen wäre als dieses.
Als Felix und ich nach gut einer Stunde leider erfolglosen Pürschens wieder aus Spoonely herausgekommen waren, stand Georges bei seinem Geländewagen und studierte mit dem Spektiv in einer gut 2 Kilometer auf der anderen Talseite gelegenen Wiese herum: „Da habe ich vorhin einen Bock treiben sehen. Ich bringe Euch bis zur Straße, dann pürscht Ihr die Hecke entlang den Hang hinauf und schaut ihn Euch etwas genauer an. Ich fahre weiter und schaue noch ein paar andere Ecken an. Ihr könnt dann zu Fuß zum Haus zurückgehen.“
Freund Felix hatte mich schon lange vor der Blattzeit nach der richtigen Adjustierung für das Revier befragt. Da die hohen Halme der Schmielen und Wendel in den Wiesen im Sommer – wie beschrieben – oft völlig verblichen sind, hatte ich ihm neben normalem Jagdzeug die Mitnahme einer Safarijacke empfohlen. Die zog er sich jetzt an, und entlang der beschriebenen Hecke pürschten wir den Hang hinauf. Es ist ein hübsch steiler Stich da hinauf, von mehr als 15 Steigungsprozenten, und das hohe Gras machte das Gehen, vor allem das möglichst lautlose Gehen auch nicht eben einfacher. Ich weiß, dass mich jetzt mehrere wohltrainierte Zeitgenossen ein Waschweib zu heißen sich gerufen fühlen, aber erstens bin ich kein wohltrainierter Zeitgenosse, zweitens besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen normalem Gehen im Hang und lautlosem Pürschen im bauchhohen Gras steiler Wiesen bei schwülheißen Sommertemperaturen. Wir waren beide wohlgesotten, als wir an der oberen Wiese anlangten, genau in einem Heckeneck.
Von unserer Hecke bis zum oberen Rand waren es gute dreihundert Schritt, und die Hecke, die die Wiese nach oben hin begrenzte lag 20 Meter höher als die, gegen die wir standen. Felix stand gut gedeckt in der Hecke, die Büchse schussbereit auf dem Dreibein. Lediglich seine etwas hell geratene Safarijacke stach ein wenig gegen das Buschwerk ab. Auf die ersten Blattlaute regte sich in der Wiese nichts. Der Bock, den Georges vor gut einer halben Stunde von der anderen Talseite aus gesehen hatte, hatte eine Gaiss getrieben. Er konnte inzwischen über alle Berge sein, wobei ich eine relativ genaue Vermutung seines Aufenthaltsortes hatte: an den obern Rand der Wiese schließt sich ein großes Plateau an, auf dessen anderer Seite das Gelände langsam gegen den Wald hin abfällt. Auf dieser Seite hält sich Rehwild gerne auf, und beizukommen ist ihm dort nicht: der Hang ist in sich solcher Art gewölbt, dass man auf zwanzig oder weniger Schritt am Wild sein muss, um es sehen zu können. Das ist aber im hohen Gras nicht machbar. Die Gaiss mit dem Kitzruf von dort herüber zu holen, war aus mehreren Gründen aussichtslos: zum einen war die Distanz zu groß, zum anderen wusste ich nicht, ob der Bock mit einer Schmalen oder einer führenden Gaiss des Wegs war – und selbst hätte ich die Sicherheit gehabt, dass es eine führende gewesen sei, so hätte ich doch nicht gewusst, wo sie ihre Kitze abgelegt hatte. Die Gaiss weiß metergenau, wo sie ihre Sprösslinge gelassen hat. Und soll der Kitzfiep Erfolg bringen, muss ich zumindest in der Nähe der Kitze, besser sogar noch zwischen Kitzen und Gaiss mich befinden.
Ich versuchte es daher mit dem normalen Gaissruf, schön sacht und stad. Vielleicht würde ja aus dem kleinen Wäldchen, das unsere Wiese nach Norden hin berührte, ein Bock herauswechseln. Nach der dritten oder vierten Strophe sah ich ganz oben in der Hecke am Horizont eine graurote Bewegung: im Glas hatte ich ein kleines Stück Rehwild, so gering, dass ich zuerst an ein Kitz dachte. Trotzdem hatte der erste, der allererste Eindruck, auf den ich mich zu verlassen gelernt habe, etwas – nun ja – Bockhaftes. Leider habe ich bis heute noch nicht vollends verinnerlicht, dass ich mich auf diesen ersten, instinktiv-intuitiven, in Sekundenbruchteilen entstehenden Eindruck verlassen sollte – er hat sich im Rückblick immer als richtig herausgestellt. Grad am Rehwild kann man stundenlang ansprechend herumdoktorieren, das Gesicht beurteilen, die Statur, Haltung und Stärke des Trägers, Bauch- und Rückenlinie in Betracht ziehen, nachsehen, ob da, wo der Träger in den Ziemer übergeht die bewusste kleine Wanne ist, die der junge Bock noch hat, der mittelalte aber nimmer, kann man viele und aberviele kleine und kleinste Zeichen werten und wägen – und zwei Schritt weiter in ander Licht gezogen steht ein völlig neuer Bock da. Dabei ist noch nicht eingerechnet, dass es beim Reh kein zu 100% immer und stets verlässliches Zeichen gibt, selbst der Zahnabschliff kann täuschen. Und dennoch, lag der Bock dann auf der Strecke, dann war’s eigentlich immer vom Alter her das Stück, als das ich es im ersten Ansehen angesprochen hatte. Wenn man sich nur stets darauf verließe: immer noch kann’s mir geschehen, dass ich den für jung Angesehenen mir alt geredet habe, und der Jüngling dann im Grase lag, oder der für Alt besehene jung geschaut wurde, und andern Tags lang bei anderem Jäger der Uralte in der Wildkammer.
Als mir oben, nebst Humblebee How auf den Wiesen dieses geringe Wild in Anblick geraten war, da sagte dieses erste, unterbewusste Ansprechen: Junger Bock, und bedauernswert gering. Dann war wieder Gras dazwischen, und der nächste, genauere Blick durchs zehnfache Pürschglas ließ das Wild eher wie eine schwache Gaiss aussehen. Ich probierte ein, zwei helle Töne auf dem Kitzruf, und wirklich warf das Wild auf und kam, wenn auch nicht im schnellen Sprung, so doch stetig und graderwegs auf uns zu. Ich blickte Felix ratlos an, er sah ratlos zu mir zurück. Eben tauchte droben im Hang das Haupt des Wildes wieder auf, und diesmal war’s ein reines Kitzgesichtlein: „Starkes Kitz?“ fragte ich Felix. Der schüttelte den Kopf – und recht hatte er eigentlich schon: zu stark denn doch, und zu rot für diese Jahreszeit, wo die Kitze eben die Flecken verloren haben und eher graubraun sind denn hell leuchtend wie ihre Eltern und älteren Halbgeschwister. Wär’s Frühjahr gewesen, dann wäre es ein starkes Kitz gewesen, so sicher, als Pferde den Wagen ziehen. Aber Sommer war es, hoher, heißschwüler Augustsommer, und da war es Punktum nun zu stark für ein Kitz, dieses Stück, das jetzt in einer kleinen Senke verschwand.
Ich hielt den Ton, und das Stück die Spur. Fünfzig Gänge vor uns tauchte es jetzt aus der Senke wieder auf, immer noch spitz auf uns zustehend. Ich lenkte den Ton mit Drehung des Kopfes und lautschirmender Hand zur Rechten, zum Schützen hin, um für den Fall des Schusses ein breit stehendes Ziel präsentieren zu können. Wie am Schnürl gezogen folgte das Wild. Und als auf dreißig Schritt nun das Haupt eben sichtbar wurde, da sah ich es dann mit freiem Aug: über den Lichtern ging die Stirn steil, beinah senkrecht einen Daumenbreit nach oben, und flachte dann zum Plateau ab: das war der mit Abstand schwächste Jahrling, den ich jemals in diesem Revier gesehen hatte. „Schlechter Jahrling, dringend bitte schießen“, zischte ich Felix zu. Der nahm die Büchse ins Gesicht, entsicherte und folgte dem Wild, das immer noch von dichtem Gras verdeckt war. Zehn Gänge noch, dann hätte der Jahrling eine Fahrspur erreicht, wo ein Schuss gut möglich.
Ich weiß, dass in jedem Lehrbuch steht, das Wild habe frei zu stehen, bevor man die Kugel aus dem Lauf lässt – und das steht dort auch mit einigem Recht. Aber in den hochwüchsigen Wiesen habe ich manchen Bock erlegt, der immer noch mehr Grashalme vor dem Blatt hatte, als es die genaue Auslegung des Lehrbuches gestattet. Aber auf die blattzeitlich kurze Distanzen (im Mittel habe ich eine englischen Wiesenblattböcke auf ein Dutzend Mannschritte erlegt) hat die Kugel immer noch ihr Ziel gefunden – die von mir bevorzugten und von meinen Gästen auch stets eingeforderten langsamen Kaliber und schweren Geschosse vorausgesetzt. So war ich es denn auch nicht weiter bös, als bei Felix der Schuss brach und der Bock noch nicht in der Fahrspur stand, sondern im nunmehr sehr schütteren Gras davor. Der Schuss ging fehl, der Bock flüchtete weiter in die Wiese hinein, stellte sich dann auf fünfzig Meter in einer Graslücke breit und frei. „Noch mal!“. Im Knall tauchte das Wild weg und flüchtete dann in kurzen, abgehackten Fluchten und einen Halbkreis beschreibend in die Wiese hinein. Nach zwanzig und etlichen dieser brach der Bock zusammen. Felix meinte, etwas weich abgekommen zu sein, aber das Fluchtbild ließ mich ihm „Waidmanns Heil!“ sagen. Er schüttelte den Kopf. Zwei Zigarettenlängen standen wir da, die Stelle des Zusammenbrechens im Aug. Da rührte sich nichts, aber auch gar nichts mehr. Ich wollte los. Da sah ich, dass der Bock das Haupt hob. Felix wurde vom Schussfieber arg gebeutelt, so griff ich zur Waffe, bekam aber den Wildkörper keinen Millimeter weit frei. Das Haupt sank in einer raschen, für das letzte Verlöschen so typischen Seitwärtsbewegung ins Gras. Wir warteten weiter zu und als sichtlich kein Regen mehr war, wollte ich mit dem Schütz zum Wild treten. Ich war mir der Beute sicher, bat Felix aber trotzdem, mit geladener Büchse im Halbanschlag vor mir her in Richtung des Wildes zu gehen. Langsam pürschten wir vorwärts, und als wir auf drei Schritt heran waren, als die Decke des Bockes bereits zum greifen nah vor uns im Gras zu sehen war, da wurde das Wild hoch und flüchtete schwerfällig von uns weg.
Felix’ durchs Zielfernrohr nachgeworfener Schuss ging fehl, der Bock schob sich dreißig Meter vor uns in ein dichtes Grasgebüsch ein. Fehler hatte ich nun bei Gott übergenug gemacht. Das schwerkranke Wild aber jetzt der Sommerhitze und den Fliegen zu überlassen, bis es irgendwann unbestimmten, aber stressbedingt fernen Zeitpunkts qualvoll verdämmere, das war mir meines nicht mehr. Ich bat Felix, das Zielglas abzumontieren und ließ mir die Waffe geben. Die geladene Büchse im Halbanschlag ging ich nun auf das Bett zu. Ein letztes Wegflüchten auf wenige Schritt war es noch, dann warf ein kurz angetragener Fangschuss das Wild endgültig ins Gras und hoffentlich bessere Äsungsgründe.
Es war kein froher Gang die Wiesen hinab der Strasse und dem Manor zu. Wir holten das Auto, um das Wild abzutransportieren. Für die Wildkammer taugte das mit meiner letzten Kugel arg zu Schanden geschossene Stück nicht mehr, es wanderte graderwegs in den Luderschacht. Mit betretenen, verschwitzten Gesichtern betraten wir das Esszimmer, und da ich als Pürschführer und Fangschütz die letzte Verantwortung trug, beichtete ich Georges und dem Jagdherrn das Gescheniß. Die Absolution wurde uns beiden gnädig erteilt.
Georges aber, der uns von der anderen Talseite beobachtet hatte, Georges hat die Angewohnheit, jedem Jagdgast einen Kriegs- oder Codenamen zu geben. Jener Gast, der einst mit der letzten Kugel aus einem auf einen Bock in schneller Folge völlig leerrepetierten Magazin diesen auf astronomische Distanz mehr glücklich als gewollt erlegte, heißt bis heute intern „Machine-Gun-Claude“, ein anderer, der neben großem Fachwissen auch eine frühpürschbehindernde Vorliebe für alte Bordeaux-Weine hegt: „Pomerol“. Felix führt seit dem hier beschriebenen Tag seinen eigenen Kriegsnamen in Charlton Abbotts. Georges hatte uns nämlich von seiner fernen Warte nur entdeckt, weil Felix’ nagelneue und erwähntermaßen recht hell geratene Safarijacke wie ein weißer Fleck aus dem Wiesengras herausleuchtete. Und fürderhin ist mein Jagdfreund meinen Jagdfreunden bekannt als „Snowwhite“. Das heißt soviel wie: Schneewittchen.
Die nächsten Tage waren für Schneewittchen ungewohntes Jagen. Braucht man in Deutschland, bedingt durch Jedermannes Recht, die Fläche in allen Teilen zu betreten, vor allem Sitzfleisch und Geduld, um sein Wild zu strecken, so braucht es in unseren englischen Hecken, Krautgärten und Wiesen gutes Beinwerk und kräftigen Atem, will man Erfolg haben in der Blattzeit. Ich habe es weiter oben bereits erwähnt: das ist kein gemütlicher Schlendrian über englisch gestutzten Rasen hinweg, das ist oft genug sauer Waidewerk in hohem Zeug und Gerank, das dennoch so leis es irgend geht überwunden sein will. Und setzst Du darin dann umsichtig und mit der Geschwindigkeit des Minutenzeigers Deiner Uhr Stechschritt vor Storchtritt, speicherst Du die acht Handbreit Boden vor Dir im Hirn genau ab, damit Du Deinen Stiefel nicht auf Laub und dürres Astwerk setzt, bückst Du Dich unterm Haselstrauch hinweg und windest Du Dich im selben Moment durch trockene Hollerstauden – ich hab noch Keinen gesehen, egal wie gut er in Übung und Atem stand, dem nicht nach zwanzig Metern solchen Wegs der helle Schweiß über die Brauen rann. Von keiner Blattpürsch dort sind wir, Gast und Guide, je trocken zurückgekehrt. Manchmal war es der Regen, der uns von außen nässte, sonst war es der eigene Saft, in dem wir sotten, und häufig genug, besonders in diesem Jahr, waren es beide Elemente.
Das frühe Aufstehen um vor Tau und Tag draußen zu sein, das können wir uns dort, Gott und der Wegdisziplin der wenigen Erholungssuchenden gedankt, sparen. Halber Siebene in der Küche für ein Stück Brot, eine Tasse Tee, einen Happen Wurst, um Sieben im Feld. Dort verbleibend bis zur Neun, heim, ein rasches Frühstück, eventuelle Arbeit in Wildkammer oder Revier. Gegen Elfe wieder hinaus, Faulbummelpürsch bis gegen die dritte Nachmittagsstund’, dann wieder heim, ein wenig Atzung, vor allem Flüssiges. Einnicken auf den weichen Sofas im Salon, und spätestens zur Sechs wieder im Wald, dort bis zum Zunachten. Das Wild versorgen, ausgehungert übers meist englische, doch durch Großzügigkeit des Jagdherrn stets von besten französischen Weinen begleitete Souper, ein, zwei Brandy noch, dann zu Bett. Diese Wechsel hielten wir ehern. Oh, hätte nur das Wild die Seinen ebenso gehalten! Ich wusste genau um den ein oder anderen Kund, der recht gepasst hätte in diesem Jahr, und um viele Ecken, wo immer alte, interessante, gewiefte und mit allen Unguenten gesalbte Herren des Weges hätten sein müssen. Aber es hält der Bock in seiner hohen Zeit nur unstet fest an Heim und Herd, und treibt sich samt seiner Dulcinea oft herum in Ecken, wo er ungestört der Liebe pflegen mag – und verdenken kann ich ihm das nimmer. Schimpft mich verlogen und sentimental, aber je mehr ich auf mein liebstes Wild Capreolus jage, umso mehr ist da ein echtes Verstehen. So manchen hab ich ziehen lassen, weil er mich geahnt und nicht gesehen, hab ihn gegrüßt, ihm einen guten Tag gewünscht bis auf ein ander Mal. Auch viele, die ich nimmer konnte, nimmer wollte ihrer Seelenruh’ in Klee und Kräuteln einfach mir nix, Dir nix umblasen. Andere, die so zu Stunde und Stimmung gehörten, dass ein Schuss nicht Jagd, sondern nur Zerstörung wäre gewesen. Und nimmer, nie und nimmer hab ich – wie so manche, die drum prahlen – den Bock von seiner Gaiss herabgeschossen. Es gab wohl den ein und anderen Jäger, der mit mir ging, und der das nicht verstanden hat. „Es könnte doch keinen schöneren Tod geben, so mitten in Lebensglück und Leidenschaft von jetzt auf gleich dahingerafft zu werden!“, das sagten sie mir jedes Mal, wenn ich den Schuss verboten hatte. Ich habe sie dann meist zurückgefragt, ob sie wohl selbst in selber Situation so gedacht und gefühlt hätten, wenn sie mittendrin und VOR dem Ende und der Erfüllung hätten eine Kugel stechheiß hinters Blatt bekommen.
Wir sahen viel Wild auf diesen Pürschen, und stets war es ein sehr erfreulicher Anblick: die gezählten Häupter nach Bock und Gaiss heilten sich sauber die Wage, das ehemals kriminelle Geschlechterverhältnis war also wirklich und ehrlich beim erstrebten Gleichstand angekommen. Zum Zweiten sah ich zum ersten Mal in diesem Revier eine nennenswerte Anzahl suchender Böcke, wie sie mit tiefer Nase, gleich dem Jagdhund auf der Fährte, nach Weib und Wollust ihres Weges zogen. Und zum Dritten war es jedes, beinah jedes Mal ein braver, guter und das ein und andere Mal sogar hochbravgutstarker – Jungbock, der sich da nach Leib und Liebe umtat: der eine sprang uns durch ein Wiesental aufs Blatt direkt bis unters Gesicht, der andere traute sich nicht recht, weil er schon Senge bezogen hatte von alten Herrn, und trotzdem war das schmachtsehnsüchtige Fiepspiel so unsäglich betörend und anziehend, dass er in weiten Schleifen schielte nach der vermeintlich einsamen Schönen.
Dennoch – das, was wir zu erlegen uns vorgenommen hatten, nämlich schwache Jährlinge und Zweijährige oder alte, reife Herren, das kam uns nicht vor.
Denn nichts ist die Blattzeit weniger als die Garantie, bestimmten Böcken das Fadenkreuz oder die Muck im Grinsel hinters Blatt zu setzen. Viel eher ist dies die Zeit, in der ein ganz bestimmter Bock recht eigentlich am schwersten zu bejagen ist – wenn man einmal von der dummen, sinnlosen Belästigung des Wildes in der Feistzeit absieht. Denn die Blatterei steht in Erfolg oder Misserfolg auf drei Säulen: Zum ersten und zum wichtigsten das „Wo“. Wo suche ich meinen Stand? ist darin die am wenigsten wichtige Frage, aber: welcher Bock ist wo des Wegs, und wer drumrum noch sonst? Als zweites gilt das „Wann?“, die Frage nicht nur nach dem rechten Moment des Jahres, sondern nach dem rechten Moment genau dieser einen Brunft, ja, genau dieses einen Bockes: steht er noch bei seiner Madame, oder steht er erst bei ihr – oder gar nicht? Und wenn gar nicht: steht der dann überhaupt noch hier oder ist er vielleicht nach anderen, vielversprechenderen Gegenden gezogen. Letztlich noch das „Wie“, die Frage danach, wie ich meinen Blatter hand- respektive maulhabe, und wie ich eventuell plätze oder fege. Dies ist der am wenigsten wichtige Faktor, aber leider auch der einzige in dieser Gleichung, den ich zu hundert Prozenten beeinflussen kann. Den nächstwichtigeren, das „Wo“: darauf habe ich vielleicht sechzig Prozent Einfluss, und auf den wichtigsten, das „Wann“, darauf stehen mit vielleicht zehn oder zwanzig Prozent Einwirkung zu Gebot. Mithin: spannende, erlebnis- und vor allem lehrreiche Jagd, deren Erfolg weitaus höher wiegt als einer, der mit hartem Hintern ersessen.
Wie spannungsreich, wie lehrreich solch ein Blattstand sein kann, wie man da echt und recht an seine Grenzen geführt wird, das will ich hier erzählen: sieben schusslose, aber überreiche Pürschen hatten Felix und ich hinter uns gebracht. Am Abend hatte ich mir einen er wildreichsten Revierteile vorgenommen, dem ich am Anfang meiner englischen Zeit den Namen „Deer Larder“ – „Wildkammer“ gegeben hatte, weil dort immer Anblick war. Vier Wiesen, jede zwischen sechs und acht Hektar groß, stoßen hier aneinander, fein säuberlich abgegrenzt durch dicke, alte Hecken. Wald, Heimstatt und Einstand stoßen daran, in Goretex Gully und Oak Plantation. Hier wusste ich vom Mai und schon vom letzten Jahr her einen alten, reifen Bock, den ich Felix zugeschrieben hatte. Er hatte seinen Einstand im bereits erwähnten Goretex Gully, zog aber zur Äsung stets auf die Wiesen hinaus. Eine einzige Stelle gibt es, an die er mit dem Blatt zu locken ist: ein kleiner, seichter Graben, der den Einschnitt von Goretex Gully in die Wiesen hinaus fortsetzt. An dessen Spitze stellten wir uns in die Hecke. Beim Hinpürschen stand uns eine Gaiss im Wege. Ich hatte meinen Freund im Vorhinein schon auf solchen Besuch bereitet und ihm gesagt, dass wir in diesem Falle laut miteinander redend weitergehen, nicht weiterpürschen wollten: das Wild dort kennt Spaziergänger und weiß sie genau vom schleichstillen Jäger zu unterscheiden. Die Gaiss nahm uns war und begab sich in hohen, aber seltsam staksigen, beinah krank wirkenden Fluchten von der Hecke weg in die Wiesen hinein. Als sie völlig vom Gras verdeckt war, stahlen wir uns an die Hecke hin und blieben dort reglos stehen. Keine fünf Minuten dauerte es, dass die Gaiss – beständig sichernd – wieder zu unserer Hecke, aus der sie abgesprungen war, zurückkehrte. Sie gab zwei zwitscherleise Fieper, und dann kam es braungrau aus dem Heckenrand: ihre beiden Kitze tölpelten durchs Gras und drängten sich an die Mama, die sie rasch und ohne Federlesens in die undurchdringliche Sicherheit des Goretex Gully verbrachte. Sie hatte die Störung genau als etwas potentiell lebensbedrohliches erachtet, war – ähnlich der Entenmutter, die den Eindringling mit hängenden Schwingen von der Brut wegzulocken sucht – scheinbar krank von ihren Kitzen weggeflüchtet, um sie, als sie relative Sicherheit wähnte, umgehend in absoluten Schutz zu verbringen. Der alte Bock, den ich hier zu sehen hoffte, der ließ sich allerdings nicht blicken. Der hockte wohl sicher und zufrieden im dichten Gerank des Goretex Gully und verspürte offenbar keine wie auch immer geartete Lust.
Wir bummelten uns die Wiesen und Hecken entlang, blatteten hier, lockten dort, am Eichensaum sprang eine Gaiss auf den Weg, eräugte uns und tauchte wieder weg, der Bock dahinter rumpelte grad für zwei Sekunden ins freie, im Wegflüchten sehe ich, dass die rechte Stange drei Finger über der Rose abgebrochen ist. Hübsch starker Träger. Später dann holten uns einen zwar zu jungen, aber dafür ausnehmend guten Bock auf wenige Schritte heran, der sich nach der obligaten Portraitaufnahme erst von dannen empfehlen wollte, als wir beide freundlich den Hut lüfteten und ihm Guten Tag und Guten Weg wünschten. Ob er hinreichend verblattet war? Ich weiß es nicht. Ich hoffe es. Und falls mein Leser nun stutzt: Ja, es gibt Böcke, speziell junge, gute Böcke, die ich mit voller Absicht dergestalt verblatte, dass ich sie nahe heranhole und mich dann so deutlich wie möglich zu erkennen gebe. Warum? Es ist mir lieber, ein Zukunftsbock springt mir in dieser Brunft nicht mehr aufs Blatt, als dass er - in der Hektik und der sekundenbruchteilschnellen Entscheidung am Blattstand – vor seiner Zeit die Kugel bekommt. Dass ein Bock so massiv verblattet wird, dass er am Brunftgeschehen überhaupt nicht mehr teilnimmt, das ist ein Argument, das ich in dieser Form bisher nur bei Gagern gelesen habe – und der war ein wortgewaltiger Gegner jeglicher Lock-, speziell der Blattjagd; dies allerdings mehr aus sentimentalen, denn aus wildbiologischen und jagdpraktischen Gründen.
Wir hatten die vier Wiesen der Deer Larder gründlich inspiziert, und da es noch gut ein und eine halbe Stunde bis Sonnenuntergang Weile hatte, war zumindest noch einer, vielleicht zwei Blattstandln drin, ein größerer Ortswechsel aber nicht mehr. Die einzige Möglichkeit, die uns offenstand, war auch die nächstliegende: Mixie’s – wenn wir den Namen dieses Wäldchens einmal auf den ganzen Komplex ausdehnen wollen. Der Wald selbst krönt den westlichen Hang eines Wiesentales, das an 500 Schritt lang und deren dreihundert breit ist. Am nördlichen Ende liegt eine namenlose, vom Vater des heutigen Besitzers angelegte Fichtenpflanzung, und nach Osten hin schließt Mixe Valley mit Cherry Tree Hill ab, ein dichter Weiß- und Hagdornverhau, der ein raumes Holz umschließt, darin eine der erwähnten Flugvolieren gelegen ist. Genau das macht diesen Revierteil so interessant. Wie erwähnt, umgibt jede dieser Volieren ein cordon sanitaire von 200 Metern. Bei strenger Auslegung dessen lässt sich während der Blattzeit das Rehwild nur dann bejagen, wenn es zumindest im halben westlichen Hang steht, oder in der westlichen Hälfte des namenlosen Waldes, der den Talschluss bildet. Dazu kommt, dass der Wind in diesem Revier fast immer aus Westen weht und damit genau auf die wenigen Flächen des Tales hin, die bejagbar sind. Wer es als Bock so sicher hat, der mag alt werden.
Um den Wind brauchten wir uns für diesmal keine Sorgen zu machen: die Luft lag schwülheiß und bleiern ohne Regung. Wir pürschten am Waldrand von Mixie’s dahin, langsam, gemächlich und trotzdem schweißgebadet ob des drückenden Wetters. Vom Horizont kam es graudunkel und regenschwer, und im Bestand, unter den Fichten und Lärchen war es stockfinster. Heraußen, auf der Wiese war noch gutes Schusslicht. Wir arbeiteten uns langsam Richtung Talschluss vor. Als der Rand des namenlosen Waldes gut einzusehen war, hielt ich an um das Gelände mit dem Glas abzuleuchten. Richtig stand drunten im hohen Zeug am Saum ein Reh. Doch: was es war, das konnte ich im Halmenmeer mit dem zehnfachen Glas nicht mehr sehen, nur die Fernlupe, das Spektiv konnte da noch helfen. Am Gehstock angestrichen, sitzend im Hang ging es leidlich ruhig zu schauen: nix auf dem Häuptel, Gaiss. Dahinter gleich noch mal rot: doch was am Haupt, ordentlich auf dem Haupt, Handbreit über die Luser und hübsch stark dazu: Bock! Alter tät’ auch passen, fünfe und mehr, wie er steht, wie er schaut. Aber: hübsch weit da hinunter, zweihundert Schritt und mehr, zu weit für den Schuss auch übers Dreibein. Und grad’ auf der Grenze der Sicherheitszone steht der Kerl mit seinem Gspusi. Ich schaue zu Felix hinauf, bedeute ihm: „Warten, schauen was er macht!“
Stichgrad ziehen Gaiss und Bock in die Wiese hinein, aber immer im hohen Gras. Dumme Sache das: wollen wir ihn frei haben, müsste er in den Gegenhang hinein – und damit in die Sicherheitszone rund um die Voliere in Cherry Tree Hill. Oder er zieht unter uns durch, kommt ein wenig zu uns herauf, da wären dann sicher ein oder zwei freie Stellen im hohen Gras. Würden ihn aber die längste Zeit nicht sehen, permanent still stehen hieße das und ungeschauter zuwarten. Obendrein könnten beide auch hinten hinaus, grad’ in dem Eck, wo Mixie’s und der namenlose Wald zusammenstoßen. Mit dem Blatter ist auch nichts zu wollen: die Gaiss da unten ist sichtlich eine Schmale, das Hölzl bleibt in der Tasche. Hier heißt’s harren – aber nicht lang. Irgendwas läuft dem Bock da unten quer, irgendetwas stört ihn. Wir können es nicht sein, gut gedeckt steht Felix gegen den dunklen Waldrand regungslos, ich sitze im hohen Gras, kein Lüftl regt sich. Trotzdem brummelt der Alte da unten vor sich hin, fängt richtig an zu schrecken und begibt sich, gefolgt von seiner Gaiss geschlossenen Spiegels und gemessenen Schrittes in den Gegenhang und dann ums Eck aus unserem Blickfeld. „Was hat den jetzt so gestört?“ frage ich Felix. Der schaut mich groß hinter seiner Büchse an und zuckt mit den Schultern. Sollte vielleicht ein Anderer, ein Stärkerer gar, einer mit mehr Hausrecht und Handfestigkeit zu dessen Aufrechterhaltung im Wald drin stecken? Wir warten noch ein paar Minuten zu. Wieder blitzt es rot am Waldrand unten zu uns herauf: das Glas lässt auf dem Haupt nichts erkennen, aber das Gefühl sagt: Bock! Das Reh zieht langsam in unseren Hang hinein und ist alsbald überriegelt. Bock oder Gaiss? Mit Sicherheit nicht zu sagen, aber das Gefühl, der erste Eindruck…
Ich nehme den Kitzruf aus dem alten, grünleinenbezogenen Brillenetui meines Großvaters. Drei, vier Töne, nicht zu leis, zu laut auch nicht: Bewegung im Gras, unten an der Hügelkante. Das Stück zieht langsam, misstrauisch fast unter uns her, nur ganz sacht schräg auf uns zuhaltend. Im Glas ist es mir für einen Sekundenbruchteil, als wäre da eine Stange nur zu sehen, lang wie mein kleiner Finger und ebenso stark. Kann aber auch ein Grashalm gewesen sein in dem dichten Zeug. Gut hundertzehn Mannschritte zum Stück, es verhofft in guter Deckung. Der Boden ist wüchsig hier, das Gras an der Stelle geht mir bis zum Kinn. Schaffe ich es, das Wild näher her zu locken, hält es seinen argwöhnischen, halbschrägen Wechsel, dann kommt es direkt auf eine freie Stelle in der Wiese fünfzig Schritt stichgrad unter uns. Nur jetzt nichts falsch machen, denke ich. Ein Blick zu Felix, ein Nicken. Er nimmt die Büchse in Halbanschlag, legt den Lauf aufs Dreibein. Ich blatte leise und vorsichtig weiter, lenke den Ton so weit es geht nach rechts, schirme ihn zusätzlich mit der Hand zum Wild hin ab. Es soll die Quelle nicht hier bei mir, sondern einige Schritt weiter weg vermuten. Und offensichtlich fällt das Stück darauf herein langsam, immer wieder verhoffend, äugend, sichernd zieht es unter uns durch. Jetzt kommt das Haupt in eine Lücke. Glas braucht es keines mehr: ein fingerlanges Stängel auf dem Haupt, eines nur. Felix sieht mich an, ich forme mit den Lippen: „Jahrling, schießen!“. Er nickt.
Immer noch ist das Böckel vom hohen Gras gedeckt. Jetzt steht es nur noch wenige Meter vor der Freifläche und sichert verhoffend herauf. Ich kauere mich reglos ins Gras, Felix steht wie zur Salzsäule erstarrt. Der Jahrling muss irgendetwas mitbekommen haben, in scharfen, abgehackten Bewegungen geht sein Haupt auf und ab, scheinäsend. Jetzt zieht er im Stechschritt langsam in Richtung Freifläche, stetig weiter sichernd. Auf vierzig Schritte ist er heran, verhofft wieder, Armeslänge vor der Freifläche. Nur sein Haupt ist zu sehen, und jetzt merke ich, dass der Bock nicht auf uns heräugt, sondern auf eine Stelle rechts neben uns. Langsam drehe ich meinen Kopf in die vom Jahrling angezeigte Richtung: fünfzehn Schritt neben uns steht ein starker, alter Bock! Er muss von hinten, aus dem Wald heraus aufs Blatt gekommen sein. Hoch reckt er den Träger, steckt den Windfang nach oben, windet, sichert. Zwischen seinen Lauschern sehe ich nur eine einzige, starke Stange. „Felix: neben uns!“, will ich meinem Schützen zuzischen, da bricht der Schuss. Der alte Bock springt in hohen Fluchten ab, ich reiße den Kopf herum: der Jahrling saust in gestreckter Jagd in Richtung Wald. Felix schüttelt den Kopf: „Gefehlt!“ – „Wen, den Jahrling oder den alten?“ – „Wie: Wen?“. Er schaut mich völlig konsterniert an, und will erst nicht glauben, dass da ein alter, starker, abnormer Bock neben uns stand, und als ich ihm erzähle, dass wir ganz offensichtlich zwischen zwei echten Einstanglern standen, Jahrling und Altbock, sehr wahrscheinlich Vater und Sohn, da sehe ich in seinem Blick nur ein Wort: „Jägerlatein!“. In dem Moment schreckt es hinter uns im Wald laut und sehr verärgert auf.
Der Jahrling war tatsächlich gefehlt, die Fluchtfährte stand klar im hohen Gras. Bis zum Waldrand hin, und auch dort an den dichten Sträuchern und Ranken war kein Tröpflein Schweiß zu finden. Und trotzdem war es ein reicher Abend, in dessen letzten Licht wir heimwärts gingen, erstaunt vom Erlebten. Zwei echte Einstangler und einer mit einer gebrochenen Stange so nah beisammen! Den mit der gebrochenen Stange erlegte Jaap am Tag nach unserer Abreise. Die beiden echten Einstangler sind bislang nicht mehr gesehen worden. In Mixie’s wird es nächstes Jahr spannendes Jagen werden.
*
Das Wetter hatte umgeschlagen: die Temperaturen waren nur wenig gesunken, aber das Revier lag unter schweren Regenwolken, die sich unablässig in kürzeren oder längeren Schauern leerten. Dazwischen dampfte es schwül aus den Hecken und Wiesen. Sämtliche Blattversuche blieben ergebnislos, das Wild steckte in den dicksten Dickungen, hin und wieder ließen sich unterm Trauf Bock oder Gaiss blicken, beizukommen war ihnen aber nicht. Zu dritt waren wir an diesem Abend losgezogen: Georges, Felix und ich. Das Pürschen wollte keinem von uns mehr schmecken, jeder hatte sich einen mehr oder weniger gut gedeckten Hochsitz ausgesucht, und dort wollten wir geruhsam den Abend verbringen.
Mein Sitz in einer alten, breiten Hecke, deren wenige Bäume einstmals zahlreichen Krähen
Nistplatz gaben und dir drum „Rookery“ genannt wird, mein Sitz lag dem Haus am nächsten, und drum setzten die beiden mich dort ab. Ich sammelte noch mein Zeugs vom Rücksitz ein, als Felix, vom Beifahrersitz aus eine schräg vis á vis liegende Wiese abglasend, Anblick meldete. Tatsächlich stand am unteren Ende dieser steil abfallenden Wiese, die an drei Seiten von Wald umschlossen ist, ein schwacher Jahrling: schwach an Wildbret, auf dem Haupt ein zwar lauscherhohes, aber dünnstangig und schwach verecktes Gabelpärchen. Georges sah mich an, und mit den Worten: „Ich würde vorschlagen, Du gehst ihn an und schießt ihn“ zog er sein Spektiv heraus. „Und nimm das Walkie Talkie mit“. Ich kenne seine Vorliebe, sich von anderen eins vorpürschen zu lassen, schon zur Genüge, die Vorteile eines Funkgerätes im hohen Zeug ebenfalls. Und da ich ohne ihn nie in dieses prachtvolle Revier gekommen wäre, gab ich keinerlei Widerworte, packte Büchse und Dreibein und dackelte los.
Durch die Wiese führt ein Fahrweg herab, an dessen Rändern einige wenige schwindsüchtige Weißdornbuschen stehen. Einen davon brachte ich als optische Deckung zwischen mich und den Jahrling. Zum Fahrweg waren es vielleicht hundertfünfzig Schritt, der Bock mochte noch einmal weitere achtzig davon in der Wiese stehen. Ich kam problemlos an meinen Stand, stellte mein Dreibein, packte meine Ferlacherin obenauf und gab mit dem Blatter ein paar helle Töne. Der Jahrling ging sofort drauf ein, zog halbschräg her und bei zwanzig Schritt bekam er die Kugel auf den Stich. Das Zeichen war wie im Bilderbuch: mit allen vier Läufen schnellte der Bock hoch übers Gras hinaus, strich mit den Hinterläufen eine perfekte Kapriole Hoher Schule, und die letzen Fluchten waren nur noch Verlöschen. Ich ließ die abgeschossene Hülse aus dem Lager gleiten, hing meine Büchse ans Dreibein und fummelte nach einer beruhigenden Zigarette. Immer noch – und auf immer, hoffe ich – zittern mir nach gelungenem Schuss aufs Wild die Hände wie Espenlaub. Ich hatte die Gewünschte eben in Brand gesteckt, als sich Georges über Funk meldete: „Nächster Auftrag! Diagonal durch die Wiese nach oben, da, wo die hohen Lärchen an Eric’s Trieb stoßen, stehen Gaiss und Bock. Ich glaube, der ist alt. Schau ihn Dir an und wenn er passt, schieße ihn.“ Schöner Auftrag: von mir zum Wild waren es gute dreihundert steile, deckungslose Wiesenmeter, und noch dazu saß mein bislang streckeloser Jagdgast mit im Auto. „Schick mir Felix her, ich bring ihn auf den Bock zu Schuss. Irgendwie.“ – „Nein, die Gaiss sichert dauernd zum Wagen herunter, wenn Felix jetzt aussteigt und zu Dir kommt, dann sind beide weg. Dein Auftrag, Dein Bock!“
Mein Spektiv lag da, wo ich aus dem Auto ausgestiegen war, in der Wiese, Mit dem kleinen Pürschglas war der Bock auf die Distanz nicht sauber anzusprechen. Ich musste also wohl oder übel in die hohe, regennasse Wiese hinein. In tiefer Gangart zog ich los. Nach etlichen dreißig Gängen wurden die Halme niedriger, und ich pürschwatschelte im Entengang weiter. Endlich hörten die Halme völlig auf, und vor mir lag eine sauernassgallige Seggenblöße mitten in der Wiese, wohl fünfzig Schritt im Geviert. Auch da musste ich durch. Die Wiese bildete an dieser Stelle eine Wanne, daher auch die Staunässe, und erst am anderen Ende stieg das Gelände wieder an, war Deckung gegeben. Ich ging wohl oder übel von tiefer in tiefste Gangart und kroch auf allen vieren durch das Nasse Zeug, wohl wissend, dass vorne zwei Lichterpaare zu beachten waren, denen dieser dunkle Klotz, dieser prähistorisch übergroße Maulwurf irgendwann auffallen würde, und dass zudem hinter mir zwei Spektiv-Linsen auf mein nicht grade geringes und optisch wirkungsvoll gen Himmel gerecktes Hinterteil gerichtet waren. Ich weiß aus nachmaliger Erzählung, dass ungefähr in diesem Moment Georges zu Felix bemerkte: „Das war es, was ich sehen wollte: er ist viel zu dunkel gekleidet, der Kerl sticht aus der Wiese wie ein Fußball auf einem Billardtisch. Das Tarnzeug muss heller sein.“
Während also so über meinen Auftritt als Versuchskaninchen in Sachen optimaler Tarnung gefachsimpelt wurde, hatte ich die nasse Stelle glücklich hinter mich gebracht. Bock und Gaiss hatten mir zudem den Gefallen getan, aus ihrem Eck unterhalb des Waldrandes ein gutes Stück nach rechts und damit in meine Richtung zu ziehen. Aus den anfänglichen dreihundert waren inzwischen einhundertundfünfzig Meter geworden. Noch dazu stand das Wild jetzt in einem überhoch bewachsenen Wiesenteil, für mich nicht sichtbar – aber damit war auch ich für das Wild gedeckt. Ich hatte eine grobe Ahnung, wo die beiden hinziehen würden: hinter den hohen Lärchen lag eine weitere, lange und sehr äsungsreiche Wiese. Der Wechsel dorthin führte stichgerade vor mir oben durch den Wald. Ich verkürzte meine Entfernung dorthin um noch einmal gute dreißig Meter, fand eine leidlich offene Stelle und richtete mich dort für einen kniekauernden Schuss übern Stock ein. Es war eine rechte Bußübung: mein signifikantes Körpergewicht unterzog Meniskus, Patellasehne und Oberschenkelmuskulatur einer intensiven Dehnungsprobe. Und vom Wild war nichts zu sehen, außer hin und wieder rote Schemen im Gras. So kauerte ich da, ein viel zu dunkler Fleck in der ausgeblichenen Wiese und harrte aus.
Die Gaiss wurde als erste wieder sichtbar, der Bock zog ein gutes Stück hinter und unter ihr im hohen Gras einher. Im Glas waren weder Figur noch Haupt zu erkennen, geschweige denn anzusprechen. Ich versuchte es mit dem Blatter, hoffend, dass der Bock vielleicht aufwerfen und sich zu sehen geben würde. Wunschvolles, aber unerfülltes Denken war das. Nur die Gaiss reagierte, blieb stocksteif stehen, sicherte zu mir hinunter und fiel sofort ins Scheinäsen. Sie hatte mich dunklen Fleck eindeutig registriert, und nachdem an dieser Stelle noch nie ein Busch gestanden hatte, nach allen Regeln der Wald- und Wiesenlogik auch in so kurzer Zeit kein solcher dort hätte gewachsen sein können, war ihr anzunehmen, dass diese Sache nicht völlig koscher sei. Im Zeitlupentempo ließ ich mich seitwärts ins Gras sinken, das Glas immer noch vor Augen.
Die Gaiss beruhigte sich nur langsam, dafür kam der Bock nun scheibenbreit ins Freie gezogen. Das half mir wenig. Stand er nun frei, war ich dafür bestens gedeckt. In meiner Seitlage wand und reckte ich mich, so gut es ging, um irgendwo zwischen den Halmen vor mir halbwegs freien Blick zu bekommen. Doch als mir das endlich gelang, war er wieder im hohen Zeug verschwunden. Wenigstens konnte ich mich wieder aufrichten und nahm also erneut meine Kauerstellung ein. Endlich wurden Haupt und Träger des Bockes in der Wiese frei, und im Glas sah ich: jagdbar, nicht uralt, fünfe eher denn sechse. Auslage gut, Perlung und Vereckung ebenso. Vier Finger über Lauscher, das sind bei meinen Händen acht Zentimeter, vierzehn davon misst der Luser im Durchschnitt, sag zwei- oder vielleicht vierundzwanzig Zentimeter Sehnenhöhe. Schussbar jedenfalls, speziell nach dieser Pürsch. Doch wäge man das G’wichtl des Bockes nicht, es sei denn, man halte es in Händen. Und davon trennte mich viel hohes Gras, das der Bock vor seinem Leben hatte. Ich wartete mit erst schmerzenden, dann gnädigerweise tauben Haxen weiter, probierte Anschlag und Schuss. Hundertzwanzig Meter da hinauf, nicht eben kurz für die verkrampfte Haltung, in der ich jetzt schon ziemlich lange ausharrte. Die Gaiss zog langsam Richtung Wechsel und Wald. Ich hoffte, dass der Bock endlich frei würde, aber er fühlte sich in seinem Wiesenkabinett recht behaglich und dachte nicht daran, sich von Deckung und den saftigen Kräuteln im Unterwuchs zu trennen. Wenn er sich bloß nicht niedertäte – alles, nur das nicht!
Madame wollte offenbar endlich wie verabredet dinieren gehen, wohl auch mit der Option eines kleinen Schäferspielchens zwischen Vorspeis und Hauptgang, optional ein weiteres zum Dessert. Aber der Auserkorene machte keinerlei Anstalten. Musste also abgeholt werden, der Privatier, der faule! Die Gaiss kam wieder zum Bock zurück und animierte ihn zum umgehenden Aufbrechen. Ich hatte die Büchse längst im Gesicht, das Absehen folgte dem immer noch grasverdeckten Leben, und als grade noch Halmspitzen davorstanden, ließ ich den Tupfer gehen.
Es kam, wie es aus dieser krampfverzwickten Haltung heraus auch zu erwarten war: ich verriss den Schuss, und die Kugel fand ihr Ziel weit über dem Wild im Gelände. Bock und Gaiss riss es zusammen, hochaufgereckt, scheibenbreit, freien Blattes stand er jetzt da. In Blitzesschnelle war die Büchse gebrochen, die Hülse aus dem Lager geglitten, der Lauf neu geladen. Jetzt alles zusammennehmen, ins Blatt fahren und Schuss! Der Kugelschlag war deutlich zu hören, mit tiefem Haupt flüchtete der Bock im Halbkreis hangab und brach nach zwanzig und etlichen Gängen zusammen. „Well done!“ quäkte es aus dem Funkgerät an meinem Gürtel. Am ganzen Körper zitternd entfaltete ich mein Fahrwerk aus, stand zitternd und schwankend auf tauben Beinen da und wusste, dass unter den wenigen „Bockdoubletten“ meiner Jagdtage keine war wie die, die ich eben erlebt hatte.
Mein Dreibein ließ ich aufgefaltet da stehen, wo ich gekauert hatte. Denn im hohen Wiesengras sind Anschuss und gestrecktes Wild hundshäutern schwer zu suchen, hat man nicht zumindest den Bezugspunkt zur Schussposition und die Entfernung als Triangulierungswerte. Georges hatte mich per Funk verständigt, dass er mit dem Auto heraufkommen würde, weil er Hündin Hera die kurze Totsuche gönnen wollte. Ich sollte ihn halberwegs treffen. Für Hera war es weniger eine Nasen- denn eine Pfotenübung, aber sie machte ihrem Herrn und Führer die Freude. Der Bock ist ein braver, an der Wand der Lieblinge wird er eine gute Figur machen und mich immer an diese Kniewallfahrt in St. Huberto erinnern.
Als wir wieder unten am Ausgangsort waren, wartete Felix dort auf mich, und gemeinsam klaubten wir den Jahrling aus der Wiese auf. Ich hatte kein gutes Gewissen bei der ganzen Sache: er war von mir auf Böcke eingeladen, ich schoss ihm zweie davon unter der Nase weg und mein Jagdgast war zum Zuschauer degradiert. Doch sein „Waidmanns Heil!“ kam so herzehrlich, sein Händedruck so fest, sein Augenblitzen so freundlich: ich habe mir geschworen, dass er so lange nach England kommen wird, bis er endlich mindestens einen guten Bock hat – und danach erst recht!
Die nächsten Tage brachten ebenso viel, wie die dem eben beschriebenen Abend vorangegangenen: Wetter und Wuchs machten alle Bemühungen zu Nichte. Böcke kamen auf weite Distanzen nur in Anblick, waren wir dann heran und das Wild sichtbar, dann war es nicht jagdbar, und war es jagdbar, dann hatte es sich so gesteckt in Kraut und Strauch, dass nichts zu wollen war.
Es folgt Teil 2