Der Wermutstropfen

Registriert
21 Jul 2006
Beiträge
570
Ihr Lieben,

Bockjagd ist offen, geschrieben wurde schon viel, da will ich auch nicht hintanstehen. Die Tage im englsichen revier waren überreich, schön und merkwürdig. Hier die Geschichte dazu. Aber: Vorsicht - ist lang. Sehr lang. Langweilig hoffentlich nicht! Wers übrigens lieber ausdrucken mag zu bequemerer Lektüre, der befleissige sich dieses Links:
Download Der Wermutstropfen.doc

„Der Wermutstropfen“

so geschehen zu Charlton Abbotts, des Jahres MMIX Mai.


Der Februar ging nicht vorbei. Der März war lang. Der April endlich kannte kein Ende. Mai, Mai sollte es endlich werden. Mai und damit Fahrt nach England, Mai und damit Wiedersehen mit alten, lieben Freunden, Mai und damit Bockjagd. Die Sehnsucht nach dem Revierjuwel in Gloucestershire war umso höher, als ich krankheitsbedingt nicht am winterlichen Gaissenriegler und dessen Vorbereitung hatte teilnehmen können.

Da war denn freilich in der Nacht auf den 1. Mai kaum Schlaf zu finden, Reisetasche und Gewehrkoffer standen griffbereit neben der Haustüre, Pürschstock und Rucksack daneben.bei. Früh, noch in Nacht und Dunkel stahl ich mich davon, Ehefrau und Hunde schliefen fest, und ich steuerte meinen Wagen gen Westen und Norden, nach Albion, dem gar nicht so perfiden. Seit mehreren Jahren bringe ich die Reise in meinen jagdlichen Garten Eden im eigenen Gefährt hinter mich. Zum einen dauert die Fahrt von Haustüre zu Haustüre nur ein und ein halbes Stündlein länger als der Flug in Anspruch nähme mit allen Wartezeiten, An- und Abfahrten, und zum anderen werden Menschen wie ich, die notorisch zuviel Ausrüstung dabei haben, nicht von rigiden Gewichtsbeschränkungen geplagt. Aber noch ein anderes, viel Bewegenderes hat diese Fahrt ein jedes Mal für mich: man fährt durch altes Land, durch Geschichte Europas auf diesem Weg, über Erde mit dem Blut von Hunderttausenden getränkt in unzähligen Kriegen die hier gefochten wurden seit dem Karl, den sie den Großen nannten und den Söhnen seines Mitkaisers Ludwig.
Und säumen den Weg auch Grausamkeiten sonder Zahl, säumen ihn auch Schönheiten und Merkwürdigkeiten in beinah gleicher Menge.

Noch ist es frühster Morgen und dunkle Nacht, als ich den Grenzfluss überquere und durch die kleinen Dörfer des Elsass und den gewaltigen foret de Haguenau Richtung Autobahn quere. Aber kaum liegt die erste Wegstunde hinter mir, geht in meinem Rücken sacht die Sonne herauf und taucht den bunten Sandstein der Vogesen in das Licht heller Rosen. Ein steiler Stich führt durch den Berg hinan, an Saverne, dem alten römischen Wirtsdorf zu den Drei Tavernen – Tres Tabernae – nach Phalsbourg hinauf. Hoch über der Schlucht, in dem der die Autobahn geführt ist, zieht sich eine breite hölzerne Brücke von Felswand zu Felswand, von Wald zu Wald. Sie ist keinem Menschen gebaut, sondern dem Wilde, dem hier durch die Straße der uralte Wechsel durchtrennt wurde, dem so ein neuer Weg wurde um von Einstand zu Einstand, von Kinderstube zu Brunftplatz zu wechseln. Man sieht in Frankreich solcher passerelle á gibier viele, und gäbe Gott, man sähe mehr von diesen auch in Deutschland.

Weiter führt der Weg über Moder, Zorn und Moselle hinweg durch Lothringen, bis die Maas, hier Meuse gequert ist bei Verdun – dem ersten großen Schlachtmal im ersten großen Krieg des letzen Jahrhundert. Von Februar bis Dezember des Jahres 1916 dauerte die Schlacht, mehr als dreimal Hunderttausend fielen. Gebracht hat sie weder dem Falkenhayn, noch den Franzosen etwas außer Leid und Tod und Not. Ein Schild steht an der Autobahn nahe Bar-Le-Duc, darauf zu lesen nur die Worte „La voie sacrée“ – der heilige Weg. Dieses Sträßlein war der seidene Faden, der schmale Pfad, über den in tausenden Lastwagen tagtäglich der Nachschub an Mensch und Material zur Front gebracht, auf dem die Verwundeten zu tausenden ins Hinterland, in die Lazarette geschafft wurden. Grausamkeit und Wahnsinn des Völkerschlachtens.

Jedes Mal, wenn ich diese Straße fahre, ist Bedrückung da über die Entmenschlichung, erinnere ich die Schilderungen des Henri Barbusse in seinem 1916 geschriebenen Buch vom Feuer: das Vegetieren und Krepieren hüben und drüben, hie französischer Poilu, dort deutscher Pickelhaubeträger. Und ich brauche meine zwei Viertelstunden, bis diese Gedanken weichen. Sie tun es, wenn ich die waldigen Hügel des Departments Meuse hinter mir gelassen und die fruchtbare Ebene der Champagne erreicht habe. Bei Sainte-Menehould ist das geschehen, und kurz dahinter führt die Autobahn an einer Stelle vorbei, die mich jedes Mal aufs Neue in Versuchung führt: Beim Dörflein Dommartin-Dampierre gibt es einen kleinen Parkplatz, eine Nothaltebucht so grade eben, auf der ich bei einer meiner ersten Englandfahrten aus mir nicht mehr erinnerlichem Grund anhielt. Stand da neben meinem Wagen und hörte Klingeln über mir. Sah auf und gewahrte große Schofe Enten, die just jetzt, so um die halber achte herum in Schusshöhe die Autobahn überquerten. Der Grund: zwei große Teiche liegen hüben und drüben der Autoroute des Anglais: des Königs Teich der eine, der andere seiner wahrscheinlich Geliebten Elise gehörig. Und wenn ich seit diesem Tag des Weges kam: beinah jedes Mal flogen die Enten zwischen Etang le Roi und Etang d’Elise hoch und schön. Und - meiner Treu – eines Tages tu ich’s, nehme die Flinte mit und schieß mir ein oder zwei für den Kochtopf!

Ich will Dich, lieber Leser, nicht weiter langweilen mit dem, was mir am Chemin des Dames, an der Aisne oder an der Somme über den Ersten Krieg durch den Kopf geht, oder was ich in der Picardie träume von hohen gotischen Gipfelstürmereien aus Stein und Mörtel, wie mir in Varennes der Bäckerkönig Louis Seize samt seiner österreichischen Kuchenkennerin Marie-Antoinette einfällt, so dort am Münzkonterfei erkannt, zurück nach Paris in die Tuilerien und von dort aufs Brett der sinnreichen Erfindung des Docteur Guillotin befördert, oder wie ich an den jungen Löwen, den achten Heinrich von England und seinen Ringkampf mit dem gallischen Cousin, dem ersten Franz denke, wenn ich das Tal des güldenen Tuches kurz vor Calais passiere, wenn in meinem Hirn die Zeltstadt des Camp du Drap d'Or entsteht, wo ein vom gemein-genialen Kardinal Wolsey ausgehandelter ewiger und immerwährender Friede geschlossen werden sollte zwischen Frankreich und England, und wo Heinrich seiner Anne Boleyn Schwester Mary zum ersten Mal Blick, Gunst und noch einiges mehr schenkte. Nur soviel sei gesagt: es ist eine Fahrt, die soviel an europäischer Geschichte birgt, dass ich jedes Mal bereue, sie in wenigen Stunden hinter mich zu bringen: Tage und Wochen bräuchte der Weg, recht bereist.

Ich war mehr als rechtzeitig an der Fähre in Calais angelangt, hatte bis zum Bordgang fast ein und eine halbe Stunde Weile, und so war es mir nicht weiter dumm, dass der Zollbedienstete ausgerechnet auf meinen Wagen zeigte und ihn zur genaueren Visitierung durch seine Kollegen empfahl. Man kennt das, wenn man mit Waffen reist: „Habe hier ein Jagdgewehr bei mir, bin des Wegs nach England dort auf Böcke, hier die Papiere. Sie werden sicherlich die Nummern abgleichen wollen.“ Der Mann vom Zoll nickte. Ich wollte den Koffer noch im Fond es Wagens öffnen, da bedeutete mir der Zöllner mit ernster Mine und Kopfwink, dass ich dieses besser im Zollbüro tun sollte. Nun, gut und meinethalben, wenn’s denn der allgemeinen Sicherheit dienlich sei. Ich ging in die Schreibstube, packte den Koffer auf den Tisch und öffnete ihn, wickelte Lauf und Schaft aus den ölgetränkten Lappen und zeigte die Nummern brav her. „Assemblé la fusil, sil vous plait!“
Ich setzte die Ferlacher Kippläufige zusammen und hielt sie ihm entgegen. Er deutete stumm auf das ZielfernrohnZielfernrohr. Ich setzte auch dieses auf. Da nahm sich der Mann die Waffe, öffnete sie, ließ sie mit Kennermiene zuschnappen, lauschte auf das saugende Geräusch des Kerstenverschlusses, lächelte leise und sah mich fragend an. Ich nickte, und er nahm die Waffe mit genießerischer Miene ins Gesicht, prüfte Gang der Sicherung, Einstellung des Stechers, Führigkeit des Gewehres. Als er mich noch mal, diesmal grinsend ansah, nickte ich wieder, und da bellte er ein oder zwei mir kaum verständliche Worte aus der Tür, worauf mehrere seiner Kollegen erschienen, und dann begann ein großes Fachsimpeln über das Für und Wider von Kipplaufwaffen, deren Kaliber und Einsatzmöglichkeiten. Es war ein wildes Kauderwelschen aus Französisch und Englisch, aber die Unterhaltung unter Jägern egal welcher Nation findet immer ihren Weg, auch wenn sie die Uniform des französischen Zolls tragen. Als die Waffenkontrolle endlich vorüber war, hatte ich nicht nur ein sehr gutes Frühstück aus wunderbarem Bauernbrot und grober Pastete samt son verre du vin genossen, ich war auch das Versprechen losgeworden, auf dem Rückweg noch einmal vorbei zu schauen und zu erzählen, was mir jagdlich in Angleterre widerfahren sei.

Die Fahrt von Dover über Oxford nach Charlton Abbotts verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle, und just um 16 Uhr nach Greenwich Time langte ich am Hause von Freund Tristan an. Georges stand bereits vor der Türe, Hera, seine Hannoveraner Hündin begrüßte mich mit großer Freude, und auch die Jäger der nächsten Tage, ein niederländischer Cousin von Georges samt seinem Sohn waren eben eingetroffen. „Wir machen rasch ein paar Probeschüsse.“ – „Bin dabei“, sagte ich, denn nach langer Fahrt und vor allem langer Jagdpause ist es mir spätestens seit dem Gams vom Bärgündele mehr als Tradition, ist es mir Pflicht den sauberen Schuss der Waffe zu überprüfen.

Der erste Schuss nach der Scheibe auf 100 Meter zeigte dir Wichtigkeit dieser Pflicht: So sehr ich auch durchs sechzigfache Spektiv spekulierte: die Kugel saß nicht auf der Scheibe. Ich tat einen weiteren Schuss, das Ergebnis blieb gleich. Ich setzte die Waffe ab und bat die beiden anderen Schützen, ihre Schüsse zu tun. Mein Einrichten würde deutlich länger dauern.

Als die beiden Niederländer sich nach Kräften von der Zielgenauigkeit ihrer Waffen überzeugt hatten, wurde verabredet, dass sie zum hause führen und von dort - nach Ausfassung des notwendigen Pürschmaterials – direkt auf ihre Hochstände gingen. Ich selbst bat mir den kleinen Wald Willis’s Coppice – nach einem alten Fasantrieb „Badger“ genannt – aus, den ich vom Schießstand aus bequem zu Fuß erreichen konnte. Als sie davon gefahren waren, packte ich meine Bix aufs Schießgestell, öffnete den Verschluss und richtete den Lauf so auf die Scheibe, dass die beim Blick durch die Seele mittig in der Mündung saß. Der Blick durchs Zielglas deutete einen Rechtsschuss an. Der wurde bestätigt, als ich auf den linken Rand des Scheibenspiegels hielt und die Kugel tatsächlich gute zwei Handbreit weiter rechts saß. In Erinnerung ans erwähnte Bärgündele im Hintersteiner Tal des Allgäus hätte ich jetzt ans Denken kommen müssen: auch damals ging die Kugel aus eingeschossenem Gewehr weit nach rechts und kostete mich eine gute alte Gamsgaiss. Aber wie es halt so ist: ich dachte nicht, handelte, verstellte das Glas und war mit einem Schuss mitten in die Zwölf zufrieden. So zufrieden, dass ich Depp
keinen weiteren, bestätigenden Schuss tat. Zu sehr drängte es mich nach Barsch und Bock, nach Wild und Waid.

Es wurde eine der traumschönsten Abendpürschen, die ich jemals erleben habe dürfen. Ein lichter Frühlingsabend war es, die Wiesen smaragden grün, Schlehdorn blühte leuchtend weiß und Hagdorn. Himmelsschlüssel stand leuchtgelb in der Wiese, und Dotterblümlein, hier soviel besser „Buttercup“ genannt leuchtete sattgolden aus feuchtem Grund. Newmeadow war mein erstes Ziel, war schon lange vor diesen Tagen vor meinem inneren Auge entstanden, denn hier musste ein wahrhaft alter und jetzt schon heftig zurückgesetzter Bock zu Wegs sein: vor vier Jahren hatte Georges ihn gesehen, vor drei Jahren ich, und beide waren wir einander einig: doppelt lauscherhoch die Stangen, und dickmassiv wie Billardkugeln. Einen Bruder davon hatte ich in der Blattzeit MMVII erlegt, der aber nicht annähernd an den Erstgesehen heranreichte. Mochte doch sein, dass er dieses Jahr in Gier nach frischem Grün seine wiesenmittig gelegene Hecke verließ und sich zum Schuss bot. Und wenn nicht: Jahrlinge gab es genug.

Newmeadow bildet den nordwestlichen Ausläufer des Revieres, und meine Pürsch sollte mich eben jene hügelan ziehende Hecke entlangführen, die die Grenze zu den Schafweiden des Nachbarn bildete. Der Nachbarbesitz gehört zum nahegelegenen Schloss von Sudeley, einer von Richard III. annektierten Burg, von diesem in Tudor-Besitz vererbt und daraus der Familie von Heinrich VIII. sechster und letzte Frau, Catherine Parr weitergegeben. Der jetzige Besitzer von Sudeley Castle jagt dankenswerterweise nur auf Flugwild, daher sind Gernzpürschen hier lässliche Sünde.

Vom Wege her, der mich durch die Wiesen von Newmeadow führte, war ich einen kleinen Eschenanflug entlangpürschend an die besagte Grenzhecke gelangt und bummelte mich nun langsam hangauf, immer wieder einmal zur wiesenmittigen Hecke und der Heimat des gesuchten Altbock blickend, dann die neuen Falten und Täler, die sich mir mit jedem Schritt auftaten, abglasend. Halber sechse war es, und noch kein Reh in den Wiesen zu sehen. Der Grund schien mir bald klar: im hiesigen Revier werden die Wiesen – den Auflagen der Brachland-Richtlinie folgend – nur einmal des Jahres, im späten August gemäht. Dementsprechend wächst in der Fläche im Frühjahr erst einmal nur hartstängeliges, wenig schmackhaftes Gras. Nur da, wo an Waldrand oder Hecke eine hohe Eiche aufragt, die mit ihrem Laub den Boden düngt, sind frische, weiche, süße Halme zu finden, wie sie das Reh um diese Jahreszeit beinahe gierig sucht. Wechsel und Fährten der Hecke entlang bestätigten das.

So sinnierend zog ich meiner Wege, als ich im Augenwinkel einer Bewegung im Heckwerk gewahr wurde. Ich sank ins hohe Gras, denn oft ruht der kleine Muntjac unterm Strauchwerk. Auf dem Bauch liegend suchte ich unterm Busch nach dem Grund meines In-mir-Zusammensinkens und entdeckte hinter einem kleinen Erdhügel zwei winzige, dreieckige Gehöre, die aufmerksam vor und zurück spielten. Bald folgte den Dreiecken ein helles Augenpaar, dann ein schwarzknopfenes Schnäuzerl, und richtig saß da ein Fuchswelpe in der Röhre des elterlichen Baues, halb scheu, halb neugierig nach dem riesenhaften Wesen äugend, dass da so plötzlich sich in einen unförmigen, vorher nicht dagewesenen Hügel im Gras verwandelt hatte. Halb ahnte der Welpe, dass da etwas Fremdes, Unheimliches, vielleicht sogar Übelwollendes war, halb zog ihn die Neugier. Und das, was am letzten Ende Wagemut fehlte, wurde ihm von einem Geschwister regelrecht in den Hintern gestoßen: das Füchslein fuhr mit einem Mal senkrecht aus der Röhre hoch in die Luft, und unter seinem von einer dünnen, bepelzten Lunte gezierten Podex erschien ein weiterer Welpe im Eingang der Burg Malepartus. Welpe Numero Eins landete etwas unsanft in einer Distel neben dem Röhreneingang und begann umgehend die von der stacheligen Landung in Mitleidenschaft gezogene hinterwärtige Körperregion einer eingehenden und salbenden Leckung zu unterziehen. Jung Ermelyne saß da und machte sich selbst den Götz von Berlichingen, das ursächliche Geschwisterlein aber satzte sich daneben und fiel mit gleicher Note ins Duett ein: das war Meister Reineke jr höchstselbst. Der hatte nun außer der Nachahmung wenig Grund zur Körperpflege, und wie junge Buben schon sind, war er dieser Beschäftigung alsbald überdrüssig, stupste sein Schwesterchen in die Weiche, stieß, als diese sich nicht abbringen ließ, heftiger zu, dann ein drittes Mal noch, worauf sich Bruder und Schwester zum pelzigen Knäuel umfingen und unter lautem Quieken und Belfern nach Herzenslust miteinander herumbalgten, sich stießen und knufften, abließen und einander jagten, sich endlich wieder fingen und den Reigen des Kinderspiels von vorne begannen. Ich aber lag atemlos im Grase und sah dem Treiben zu, vergessend den Augenblick, hoffend auf ewige Fortdauer. Mit Zeit und halbe Ewigkeit verzog sich das balgende Spiel weiter in die Hecke hinein, und als Stille ward, stand ich auf und setzte den Pürschgang fort, lächelnden Gesichts und reicheren Herzens denn zuvor.

Im Grase von Newmeadow war immer noch kein Reh zu sehen, und so zog ich dem Walde von Willis’s Coppice zu. Es hat mit dem Winde in diesem Revier seine eigene Bewandtnis: er weht zumeist von Westen und Süden her und tut dies mit solche Beständigkeit, dass es schon massiver Wetterlagen bedarf, damit er seine Richtung ändere. Dort aber, wo hohe Bäume am Waldesrand oder Heckensaum stehen, da prallt er ab oder fällt über und fährt gern in die genau entgegengesetzte Richtung. Hatte ich mir nun ausgedacht, am Waldrand auf verschwiegenem Wechsel ins Dickicht des Coppice einzudringen – Einhalt: erklären will ich, muss ich, was Coppice bedeutet, denn so erklärt sich Dir, mein Leser, besser, wie der Wald dort beschaffen. Der Engländer dieser Breiten war und ist ein Meister dessen, was ich in unzureichender Übersetzung „kleines Waldwerk“ nenne. Er heißt es: Coppice. Das mag ein Schälwald sein aus Hagbuchen, das mag Weidendickert oder Hasel sein, die er auf Stockausschlag und Kopf setzt um daraus vom Korb über den geschnitzten Wanderstab bis zum lebenden Koppeltor alles zu machen, biegt sich einen schlanken Schössling hernieder um mit seiner Elastizität und Wippbrett nebst Seil eine kleine Gattersäge gar anzutreiben, all dies nennt er nach Nomen und Verb „Coppice“. SO sieht denn der Wald aus: dick, dicht und schier undurchdringlich. Pürschen gehen geht hier nicht, kriechen musst Du, geduckt schleichen, Dich auf Widerristhöhe eines Rehs bewegen, willst Du ungehört vorankommen.

In ein solches Coppice nun, das sich ein verschwiegenes, verkrautetes Tälchen entlang zog, wollte ich eindringen, merkte aber rasch, dass der Wind, der mir draußen auf den Wiesen noch im Gesichte stand, hier die hohen Kronen der Randbäume überfallend kühl in den verschwitzten Nacken wehte. SO war hier nichts zu gewinnen, ich zog mich aus dem grünen Zauberwald zurück ins Diesseits der Wiesen und pürschte gemächlich der Waldkante entlang. Bald wurde das besagte Tälchen, welches sich entlang der Waldkante zog breiter, wurde das Strauchwerk lichter, und das Grün der Blätter wich dem leuchtenden Blau des von Bluebells überzogenen Waldbodens. Glockenblume, so wird Bluebell oft übersetzt, und falscher könnte es nicht sein. Blüht die Glockenblume im Sommer, ist Bluebell, lateinisch Endymion nonscriptus, eine Hyazinthenart und leuchtet nur im frühen Jahr. Hasenglöcklein wird diese Zauberblume bei uns genannt, und dicht an dicht, einem azurnen Teppich gleich deckt sie den Waldboden, deckte sie hier, in Willis’s Coppice eine breite Zunge im Hang. Und mitten auf dieser breiten blauen Fläche leuchtete es grau und rot zu mir herüber: ein Rehbock äste sich durch die Pracht.

Noch bevor mir der Bock sein Haupt wies, sah ich, dass er vom Alter nicht geplagt sei: dicke Platten roter Decke standen im ruppigen Grau des verhärenden Kleides. Die Gestalt wies ebenso auf einen Jüngling, und seltsam mager abgekommen schien mir der Körper. Der Spiegel war allerdings rein und weiß, und so hob ich denn die Büchse nicht – und war froh darum: keine ganze Stunde währte diese meine erste Maipürsch, und ungern hätte ich den Zauber dieser Stimmung durch einen Schuss zerstört, hätte ich die Guten Geister des Ortes, die mich dieses friedlich-vertraute Bild sehen ließen, durch harten Kugelschlag verjagt. Zudem trug der junge Bock ein braves Krönlein auf dem Haupt, mochte gerne noch dieses und der kommenden Sommer genießen und seine knochige Gestalt durch Grummet und Kräuter wohler runden. In diesen winterlosen Breiten ist obendrein geringe Gefahr von Parasiten nur, so würde er seine jugendliche Anorexie sicher noch auswachsen. Ich sah ihm zu und nach, und als er seiner Wege zog, ging ich des meinen.

Tiefer im Wald drinnen, in einer der Fläche nach wohl einen viertel Morgen messenden, längst aus dem Äser gegangenen Pflanzung, die nun sichere Deckung bot, beobachtete ich ein gutes Jahrlingsbrüderpaar, sah einem Muntjac-Bock zu, der sich um seine Muntjac-Gaiss bemühte, inspizierte zwei Ansitze nach notwendigem Freischnitt, traf auf den Wiesen am anderen Waldesende auf Gaiss und Schmalreh, wob meinem Wechsel wieder waldwärts, sah einem alten Bock in den schreckenden Äser und ging endlich, im aufkommenden Dämmer beutelos, aber überreich beschenkt dem Hause zu. Großer Bär und kleiner Bär, Caput Draconis und des ewigen Jägers Hunde leuchteten vom Himmel herab, und hinter mir sahen wohl Dachs, Marder und Fuchs drein, warteten, bis Mensch vergangen, bis die aufregende Nacht zu Jagd und Schmaus für sie gekommen war.

Kurz war die Nacht, lang die Gespräche mit den Freunden über Erlebtes und Vorhaben, ohne Traum der Schlaf, und des Morgens Tau und Frühe fand mich wieder im Herzen des Revieres. Drei kleine Wäldlein umgrenzen hier ein Tal: Sidelands heißt der größte, Craven’s Gorse der nächste und Abbotts Wood endlich der kleinste. Hier setzte ich mich an eine halbverfallene Trockensteinmauer und wartete, was denn da kommen möge. Bei der Anfahrt hatte ich in den Wiesen am oberen Rande von Craven’s Gorse einen schwachen Bock gesehen, dessen Wegflüchten im hohen Gras einen seltsamen Rhythmus hatte. Vielleicht würde er mir hier im Tale zu näherer Anschauung begegnen. Ich mochte ein Viertelstündlein verträumt haben, als eine graue Bewegung unten im Gras mich zurückrief. Das Glas stieg an die Augen: eine Gaiss, ein älter Semester und wohl mit Zwillingskitzen dickgehend äste sich die Talsohle entlang. Aufgepasst nun: im Frühjahr kommt gern ein Sprössling hinterdrein, und beim ansichtigen Alter der Matrone konnte der durchaus schussreifes Alter haben. Richtig zog der Gaiss mit wenigen Minuten Abstand ein Bock hinterdrein – ein Alter aber war es nicht: seinen dritten Lenz mochte er grade erleben. Hochauf, aber dünn schossen die Stangen, dennoch war die Masse gleichmäßig von Kranzrose bis Rückvereckung verteilt. Locker saßen die Stangen auf hohen Rosenstöcken, nicht tief und fest, wie hineingerammt in den Schädel: dies war das letzte Zeichen für den Zukunftsbock. Gerade im Frühjahr, wenn die Rehe noch nicht verhaart haben, wenn die Gesichtszeichnung noch keinen genaueren Schluss über das Alter zulässt ist dieses Zeichen der Rosenstöcke das einzig verlässliche. Sieht man zwischen Lauscheransatz und Rosenebene der besseren Stangen ein deutliches wahrnehmbares Rechteck, das auf seiner langen Seite liegt, dann bleibe der Finger gerade: mittelalt und damit zu schonen ist der Träger.

Mittelalt war auch er hier, und mutwillig dazu: bummelte lange Minuten eifrig äsend hinter der Gaiss her. Im Frühen Jahr selektiert nach meiner Wahrnehmung das Reh nicht oder kaum, ähnlich dem Menschen, den nach dem langen Winter nach frischem Gemüse, sprich Spargel giert und der davon zwischen Mai und Juni nicht genug bekommen mag, frisst das Reh ohne echte Wahl in sich hinein, was ihm vom Boden an Grün kommt. Dem Bock steckt der Kraftaufwand des Ausschiebens und Verfegens sowie der Einstandskämpfe im Leib, an der Gaiss zehrt das im Innern heranwachsende Kitz, und beide kostet der Haarwechsel und damit der Ausfall des isolierenden, luftgefüllten Winterhaares noch weiteres an Kraft – oft noch stiehlt sich der Frost nächtens herein, und nasser Tau am kühlen Morgen tut sein Übriges. Was Wunder, dass sich das Tier dann ohne Wahl alles nimmt, was irgend Kraft spenden mag?
Schafsgleich ästen Bock und Gaiss über die Wiese, irgendwann bekam aber Herr Capreolus das Haberstechen und schoss auf die Gaiss los, trieb sie über die Wiese weg in den Wald hinein und kam ein Kurzes darauf wieder heraus um sich an den jungen Blütendolden des Holunders ein Gutes zu tun. Ich sah ihm längere Zeit zu, bis er sich, gesättigt, wieder in seine Dickung begab.

Die Uhr wies auf ein Halbes nach Sieben, und damit gegen Ende der morgendlichen Pürschzeit hin. Ich verließ mein Mauersitzel und wanderte mählich durch die Talsohle auf den Abtswald zu. Dessen Südflanke wollte ich entlang, um an ein oder zwei lichten Stellen in den Bestand hineinspähen zu können, anschließend an seiner nordwestlichen Seite hangauf zu gehen um dann, in östlicher Richtung meinem Ausgangspunkt und Standort meines Pirschwagens zuzuwandern. Rehwild bekam ich in Süd un d Nordwest nicht in Anblick, aber dafür schwangen sich, just als ich von der einen Flanke zur anderen ums Eck bog, Rebhahn samt Henne auf und flogen im Morgenlicht übers weite Tal hinaus. Man müsste schon ein Maler vom Rang eines Rien Poortvliet sein, um solches Bild festzuhalten. Ich bin es nicht, und froh darum: so kann ich solches Erlebte im Busen halten und mich später aber und abermals daran freuen: Aufgang, Zukunft, Verheißung liegt in solchen Bildern. Mag mir das Jahr auch Prüfung bringen, den beiden wird es Balz und Gesperre und Kette sein – und danach ihr eigen Schicksal.

Als ich endlich an der Nordflanke von Abbotts Wood angekommen war, stand die Sonne schon deutlich über dem Horizont, und dam meine Pürsch direkt in den Glast führte, rechnete ich mir nichts mehr darauf aus. Ich bummelte so meine dreißig bis fünfzig Schritt fürbass, links von mir der Wald und rechts stieg ein alter Wildackerstreifen an den Horizont hin. Mit einem Mal spürte mich, dass von just der Kimm her mich etwas ansah. Ich blieb stille stehen und wandte langsam den Kopf: da oben am Horizont stand, im gleißenden Morgenlicht ein junges, schwaches Böcklein. Links ein halblauscherhoher Stummel im Bast, rechts ein nur wenig höheres, ebenso unverfegtes Stänglein. An einen Schuss gegen das Hohe Licht war nicht zu denken, aber mitnehmen wollte ich den Jünger von St. Crispianus dennoch. So pürschte ich langsam vorwärts. Ich rechnete mir aus, dass dieser schwache Bock wohl kaum in die Wiesen hinaus, sondern graderwegs in die nächstliegende Dickung flüchten würde, und das war just eben der Abtswald, an dessen Rand ich entlangging. Die Rechung gelang: der Jüngling ging gegen den jungmorgendlichen Sonnenball hangab, und just, als er den Schlagschatten des Waldes erreichte, klang mein Pfiff zu ihm hinauf, verhoffte der Jahrling, stand das Fadenkreuz hinterm Blatt, hallte der Schuss. Ein kurzes Verschlegeln am Orte noch, dann war Stille. Im Bild des rasch über den Stock auf fünfzig Gänge hingeworfenen Schusses war mir noch so, als stünde der Bock hinten merkwürdig tief.

Ich trat ans Wild, auf dessen Blattschaufel schaumig der Schweiß stand. Die Kugel hatte ihn mittig Blatt gefasst und umgeworfen. Sein rechter Hinterlauf aber war just über dem Sprunggelenk amputiert. Die Wunde war sauber verheilt und vernarbt, die Schnittfläche im Knochen glatt und plan. Im August bei der Mahd musste ihm der Lauf abgetrennt worden sein, die spiegelbildliche Asymmetrie des Gehörns sprach deutlich dafür. Aus einem weißblühenden Dornbusch gab ich im den Letzten Bissen und nestelte mir den Bruch in den Schirm der alten Tweedkappe. Die Bockjagd war aufgegangen.

Der Tag verging im Flug mit Hochstandfreischnitt und Pürschsteigpflege. Für den Abend hatte ich mir einen Ansitz ausgedacht in einem feuchtnassen, verkrauteten Waldstück. Da mochte ein alter Bock gehen, denn dort führte ein Wechsel entlang, breiter als alles, was es sonst im Reviere gab. Ich ließ den Geländewagen weit oberhalb des Waldes stehen, denn so bummelnd, stehend und lugend ergibt sich dem Aug und Hirn so vieles, was man sonst versäumte. Zum Einstieg für meinen Ansitz ging es ein weniges hangab, entlang dichter Holunderbüsche, die sich irgendwann auftun und Einblick geben in eine kleine, wohl zwanzig Jahre alte Pappelpflanzung. Da glurte ich hinein und dachte mir, wie schön es wohl wäre, stünde darinnen jetzt der alte, griesgrämige, bleischwerer Stangen bewehrte Hauptbock. Was mich anblickte und umgehend anschreckte, war der kleine Waldgeist, der Muntjac-Bock. Muntjacus Reevesi, im vorletzten Jahrhundert vom Herzog von Bedford aus China importiert und auf seinem Besitz Woburn Abbey ausgewildert hat sich auf der englischen Insel so heimatlich gemacht, dass der kleinste Vertreter der Echthirsche inzwischen zu den endemischen Wildarten Englands zählt. Kaum größer als ein Wachtelhund, niemals stillstehend, häufig und ohne Grund schreckend, daher im Deutschen Bellhirsch genannt, ohne festgelegte Brunft, daher stets entweder abgeworfen, schiebend, verfegend oder vollen Geweihs anzutreffend, unsagbar neugierig, wenn jung äußerst wohlschmeckend – es ist eine faszinierende Wildart, deren ich in meinen bald zehn englischen Jagdjahren gerade einmal zwei Böcke strecken konnte. Das Dreibein war in Gedankenschnelle aufgerichtet, die Büchse herunten, entsichert und eingestochen, der Muntjac aber empfahl sich unter lautem Gebell und mit seinem halbkörperlangen Weißwedel höhnisch winkend.

Ich habe solches zu oft erlebt, um ich davon demoralisieren zu lassen. So bummelte ich weiter dem Waldrand und ein Kurzes darin liegenden Hochsitze zu. An diesem – einer schäbigen, lauten und unbequemen Stahlrohrkonstruktion – angelangt, entlud ich die Büchse um aufzusteigen. Ich hatte den Fuß auf die erste Spross gesetzt, was diese mit rostigen Quietschknirsch beklagte, da sah ich auf dreißig Schritt eine Bewegung im Waldgras: ein weiterer Muntjac-Bock – leider im Bast – wechselte stichgerade auf mich zu. So neugierig sind diese Biester, dass sie sich zu jeder Jahreszeit mit jedem beliebigen und unsachgerecht verwendeten Wildlocker anreizen lassen – selbst mit einem rostigen Hochsitz! Ich riss die Büchse herab und versuchte, sie zu laden: das bekam der Kerl mit und empfahl sich wie sein verfegter Vetter von vorhin von dannen.

Oben auf dem Sitzbrett angelangt lud ich die Büchse, legte sie über die Knie, zog das Buch aus der Tasche und vergrub mich in die Lebensbeschreibung des Bildschnitzers Tilmann Riemenschneider. Ich war gerade bei der Hauung der nackten Eva vom Marktportal der Würzburger Marienkapelle angelangt, als es aus dem gegenüberliegenden Rand der vielleicht hundertzwanzig Geviertschritt messenden Feuchtlichtung aus Schachtelhalm und Trollblume zu mir her schreckte. Nicht das tiefe raue Bölken des Rehs, das hellere, beiläufigere weil häufig grundlose Belfern des Muntjacs war es. Ich legte da Buch beiseite und versuchte, den Kläffer zu erspähen. Fruchtloses Unterfangen: da steht ein kaum hundsgroßes Tier im Strauch und macht sich Luft. Zehn Minuten bellte das Hirschlein mich an, und ich sah noch nicht einmal eine Bewegung. Sei’s drum, bist auch nur ein Gottesgeschöpf und willst leben, so geh denn Deiner Wechsel und Steige. Dachte es und nahm das Buch wieder zur Hand.

Keine zehn Zeilen später aber verließ mich die eingeredete Gleichgültigkeit, ich blickte auf und sah hinter einem dicken Haselstrauch eine braunrote Bewegung. Der Blick durchs Glas ließ mich sofort die Büchse hochnehmen: die Stangen auf dem Haupt des Muntjacs waren deutlich länger als mein Zeigefinger. Weist das Muntjac mehr als zehn Zentimeter Stangenlänge auf, dann ist es unweigerlich im Rang einer Medaille nach der Formel des CIC. Ich weiß, dass das lächerlich klingen mag, aber wenn man bald zehn Jahre auf dieses Wild jagt, mehrere Gäste auf kapitale Trophäen davon geführt hat, selbst aber nie eine nennenswerte erlegt hat, dann will das dumme, gierige, unverleugbare Jägerherz halt auch einmal: diesen Pass könnte er nehmen, in dieser Lücke kommen. Das Fadenkreuz stand drein, der Schneller war getupft, und kaum leuchtete das Stangenpaar im Absehen, kaum füllte sich das Absehen mit Leben, brach der Schuss. Kein Flüchten, kein Schlegeln, Stille.

Mit fliegenden Fingern kramte ich eine Zigarette aus der Jackentasche, inhalierte zwei, drei rasche Züge, dann war ich vom Hochstand herab und mit einigen schnellen Schritten beim Wild. Gierig raufte die Hand durch Gras und Halm, endlich hielt sie das Begehrte fest: lang und dicker als ein Finger die Stangen, und an der rechten Rose tastete ich eines und ein weiteres Ende. Der Finger fuhr in den Äser und fühlte keine Erhebungen mehr. Da lag ein alter, ein kapitaler, ein ungerader Sechser der Species Muntjac. Beschreibt Gagern die Hirnrissigkeit, in der der Eine um ein paar hundert Gramm Gehörnsubstanz, der Andere um einige Kilo Weiberfleisch Hof, Haus und Gut verludern lässt – hier war es vollends zur Lächerlichkeit geworden für den, der ums Jagen nicht weiß. Der aber, der es kennt, der wird mich – so hoffe ich – verstehen. Ein kurzer Blick auf das Mal der Kugel ließ mich stutzen: von links war das Böcklein im Troll angewechselt, aber der Schuss saß mittig am Blatt. Sollte ich nach rechts verrissen haben? Möglich durchaus, trollendes Wild, kurze Distanz. Wurscht, liegt, passt.

Als ich am nächsten Morgen nach anblickreicher Frühpirsch wieder am Hause anlangte, kam mir Georges mit deutlich verhagelter Miene entgegen: brummelte etwas von „Hochzeit“ und „nahem Verwandten der Ehefrau“, von strengem Befehl und unausweichlichem Termin. Kurz und wenig gut: ihn hatte das erreicht, was man im britischen Parlament einen „three line whip“ nennt. Will der Generalsekretär, im Unterhaus sinnrichtig „Whip“ – „Peitsche“ genannt seine Fraktionäre zu unbedingter Abstimmunsgdisziplin bringen, so überreicht er ihnen ein kleines Kärtlein, auf dem der Befehl dreifach unterstrichen ist. Dagegen gibt es kein Auflehnen. So warf sich Georges also in Cut und Weste, verabschiedete sich nach dem Frühstück und bat mich, derweilen auf Hera, seine Hannoveraner Spezialistin acht zu geben. Wie bei einem echten Schweißhund nicht anders zu erwarten, verfügt die hirschrote und nicht gestromte Hündin, die in ihrem leichten Bau fast aussieht wie ein bayrischer Gebirgsschweißhund, über eine herausragende Nase – nicht nur für die Fährte des Bockes, sondern auch für die Auffindung seidener Sofakissen. Denn als echte Hocharistokratin bettet sie sich nur ungern auf mindere Materialien. Ich hatte nach mehreren Tagen kurzer Nächte eine Siesta bitter nötig und begab mich, Hera wedelnd bei Fuß in mein Schlafgemach. Ans Einschlafen war aber nicht zu denken, denn der Hund lag barmwürdig winselnd vor dem Bett und vermisste offensichtlich sein Herrl bis an den Rand des Herzbruchs. Ich beugte mich zu dem Tier nieder, kraulte ihr Kopf und Rücken und versuchte alles, die leidende Hundeseele zu beruhigen. Es half nichts, sie weinte weiter. Erst als ich resigniert die Hand auf meine Matratze fallen ließ, da ging es wie ein Leuchten über ihre Züge: mit raschem Sprung lag der harte Jagdhund auf meinem Bett, ringelte sich ein und schnarchte alsbald leise vor sich hin. Ich hab’ ihr gerne den Duettpartner gemacht.

Die Abendpürsch brachte einen mittelalten, braven, aber nicht weiter aufregenden Sechser ein, weil in seinem Randzonenrevier einer der besten Zweijährigen stand, den ich je auf dem Besitz gesehen hatte. Diesen wollte ich als Herr dieses ruhigen, ungestörten und dank widriger Windverhältnisse nebst wucherdichter Vegetation schwer zu bejagenden Revierteiles wissen. Hier wäre er sicher vor verfrühter, fehlansprechender Kugel und hätte seiner lieb Lebtag lang nichts anderes zu tun als zu äsen, seinen Einstand sauber zu halten und sich sommers den anstrengenden Pflichten der Reproduktion hinzugeben. Das hier drin ein Bock ungestört alt werden konnte, das wusste ich aus Erfahrung und Anschau: in meinem ersten Jahr war mir hier aufs Blatt ein ebenso kapitaler Jungbock gekommen. Nicht des Typus, wie der heurige Jahrling mit seinem korberten Gwicht, seinen starken aber nicht übermäßig langen Stangen, dafür aber nicht enden wollenden, weit geschwungenen Augenden, die fast auf einer Ebene mit dem Hauptspross abschlossen. Der damalige war von anderen, klar erkennbaren Phaenotyp des Reviers: enggestellt und hoch. Damals ließ ich ihn ziehen und erlegte in Jahre darauf als alten Rücksetzer. Viele Jahrlinge und junge Böcke zeigten und zeigen seine Kronenmerkmale. Ob es mit dem guten Zweijährigen dieser Tage auch so gehen wird: die Jahre werden es weisen. Ich bin guten Mutes.

Für den nächsten Morgen hatte ich mir einen bequemen Hochsitz ausgeguckt, auf dem ich die Stunden verhocken wollte, gemütlich und in Ruhe vor mich hinträumend sehen wollte, was auch immer geschähe. Westwood heißt der Wald hier, der ein kleines, zauberisches Wiesental überschattet. An seiner Nordkante stand mein Sitz wie die Kaiserloge in einer Arena weiter Wiesen, die sich stetig ansteigend nach Humblebee und Cherry Tree Hill hinaufzogen. Ich parkte mein Automobil am Eingang des Tales von Westwood bei einem kleinen, von Geißblatt und Waldreben überwucherten Cottage. Durch den Wald wollte ich den Hang hinaufpürschen, dann einen Blick auf die Wiesen wagen und endlich auf den Hochsitz kommen. Die Luft im Bestand war kühl und duftend von Waldmoos und Erdreich, und langsam tat ich leise Schritte bergan, mehr stehend als gehend bummelte ich mich der halben Höhe zu. Dort springt der Bestand einen starken Schrotschuss weit in die Wiesen hinein, und an diesem Waldrand schob ich mich vorwärts. Ums Eck lugend sah ich drei Rehe im Gras stehen, das kleine Pürschglas zeigte mir eine Gaiss und zwei Jahrlinge: ihre Kitze vom letzten Mai. Ich trat sofort in den Schatten des Waldrandes zurück und pürschte leise im Bestand voran. Ich wollte an die obere Ecke kommen, dort gab es im dichten Strauchwerk am Saum ein paar Lücken, durch die ich – gut gedeckt und an einer der dickschäftigen Lärchen anstreichend – einen Schuss würde wagen können. Trotz trockenen Astwerks und dichtem Brombeerhag gelang die Pürsch, und bald war ich an einer dieser Lücken angekommen. Vorsichtig durchs Strauchwerk spekulierend sah ich, dass die drei Rehe, die zu Beginn meiner Pürsch noch weit in der Wiese gestanden waren, jetzt die gedachte Verlängerung des Waldrandes nach oben hin bereits erreicht hatten. Viel Zeit gab es da nicht mehr zu wagen, sich strich am Baum an und versuchte, den schwächeren der beiden Böcke ins Fadenkreuz zu bekommen. Das war kein naher Schuss, und zudem ästen sich die beiden Brüder, einander beständig überdeckend, immer weiter dem linken Rand meiner Schusslücke zu. Endlich war der schwächere der beiden für einen kurzen Moment frei, das Absehen fuhr hinter sein Blatt, der Schuss brach und ich hörte weichen Kugelschlag. Mit krummem Rücken humpelte der Bock davon, nach rechts in die Wiese hinein, wo er sich im Schatten einer Hecke niedertat. Der Schuss war unweigerlich weich gegangen. Du wirst das kennen: da ist die Kugel draußen, sie hat aber nicht getötet, sondern Schmerz gebracht, wilden, bösen, rasenden Schmerz. Heiß fuhr mir das ein, und ich schalt mich ob der Gier, der Dummheit, der Unverantwortlichkeit für diesen Schuss: zu weit für das unsichere Anstreichen, zu nah der Bock am Rand der Lücke. Verwackelt mochte ich haben oder verrissen trotz vermeintlich guten Abkommens, und vielleicht hatte ein übersehen Blatt oder Zweig die Kugel nach rechts aus dem Leben gedrängt.

Der Bock hatte das Haupt oben, und so sehr ich es auch versuchte: von meinem Standort aus war kein Zusammenkommen zum Fangschuss auf den Träger. Ich hastete im Bestand nach unten, querte überriegelt von der Stelle, an der der Bock lag, die Wiese und kam so hinter die Hecke, in deren Schatten er zusammengebrochen war. Ich wusste, welche Lücke ich nun leise anzugehen hatte, um durch sie hindurch dem Tier den Fangschuss geben zu können. Aber just als ich das Fadenkreuz ruhig auf dem Träger des Bockes stehen hatte und abziehen wollte, da kippte der Bock nach hinten weg, schlegelte noch einmal kurz und war verendet. Ich trat ans Wild und suchte nach dem Schussmal: gut doppelt handbreit lag es hinterm Blatt. Die Leber hatte die Kugel gerade noch gefasst, ein Splitter hatte das Zwerchfell geöffnet, der Rest der Kugel war quer durch den Pansen gegangen. War es auch erst einhalb sechs Uhr: ich zog den Bock zur Straße hinunter, lud ihn in den Wagen und fuhr zum Haus. Nach solcher Schlumpschützerei hab ich die Federn nicht mehr, die Pürsch fortzusetzen.

Als ich den Bock in der Wildkammer fertig versorgt hatte, kam Georges aus dem Hause: nicht im Pürschgewand, sondern zur Reise gekleidet. Er musste wegen kurzfristiger Angelegenheiten vorzeitig nach Hause. Ich verabschiedete ihn und Hera, kurz besprachen wir noch Daten und Gäste für die sommerliche Brunft, dann fuhr er davon. Ich verbrachte den Tag bei einem Freunde in nahegelegenem Dorfe, da Tristan, mein Jagdherr, nach Schottland rüstete, der Lachse wegen und das Haus verschlossen und versperrt war. Es war ein frohes Wiedersehen mit dem deutschen Jagdfreund und seiner englischen Frau – und mit einer bestimmten Rehtrophäe: letzte Brunft, regennass und erfolglos wie sie war, da hatte er, der soviel für da Revier tat an unermüdlicher Beobachtungs- und Bestätigungsarbeit auf Georges Geheiß hin den Gang unternommen zu einer Stelle, wo einer ging, der gut sein musste über die Maßen. Spätabends einmal nur hatte ich ihn gesehen, weit weg auf der Kimme gegen einen fahlblauen Zunachthimmel hin und war trotz des schwachen Lichts und der weiten Distanz zittrig geworden ob dessen, was mein Pürschglas mir zeigte. Der Jagdfreund hatte den Bock schon öfter gesehen und bestätigt, was ich vermutet hatte. In der Brunft war ein hoher Jagdgast mehrfach auf den Starken Alten gegangen, ohne ihn gesehen zu haben. Und dann, als Georges den Freund nach der Stelle geschickt hatte am letzten Tag des letzten Bocksommers, da war es um ein Viertelstündlein nur zu tun das Schuss brach und Licht des Großen.
Er war schlicht kapital zu nennen: doppelt lauscherhoch die rechte Stange, das Augend schier allein hätte zur Krone gereicht, und dicker war sie, als das Daumen und Zeigefinger meiner Hand sie hätten umspannen mögen. Die linke Stange aber war im Bast bös verschlagen worden, und saß als mächtiger, vierzackiger Hahnenkamm auf dem Haupt. Dieser Bock nun stand auf der Fensterbank im Freundeshaus, wieder und wieder wurde das Lied seiner Erlegung gesungen, das Haupt in Händen gewogen und die Stärke bewundert. Ich war froh, dass gerade er, der den Bock so oft bestätigt hatte, ihn hatte erlegen dürfen – und mir war das Haupt Bestätigung meiner Arbeit im Revier: das durch saubere und genaue Selektion gute und beste Geweihe in Charlton Abbotts würden wachsen können. Das hatte ich vor bald zehn Jahren Tristan und Georges versprochen, eine gute Zahl bester junger und mittelalter Böcke hatten meine Angaben bislang gestützt. Mit diesem Haupt war der dingliche Beweis erbracht.

Wir sprachen lange über dieses und anderes, und am späten Nachmittag stand da die Frage, ob man noch eine Abendpürsch würde wagen wollen. Recht schlüssig waren wir beide nicht: mein Gastgeber musste nächsten frühen Morgens zur Arbeit in die Hauptstadt fahren, und mir stand bei noch früherem Aufbruch der Heimweg bevor. Aber lau war die Luft und strahlblau der Himmel: wir fuhren ins Revier.

Für diesen letzten Abend wollte ich mir ein selten bejagtes Waldstück vornehmen, Eric’s geheißen nach Tristans Vater, der in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts Haus und Land hier erworben hatte. Recht eigentlich heißt der Wald wohl Bespidge, die Wiesen drumherum Rookery und Cole’s Hill – aber dieser Bereich beherbergt einen der besten Fasanentriebe des Reviers, auf Grund des Geländes kommen die Hahnen hier hoch und pfeilschnell über die Schützen gesegelt, die am Grunde des Waldgrabens stehen. Dieser Trieb nun war bereits von Tristans Vater angelegt worden, und so heißen Trieb und Wald für die Einheimischen schlicht Eric’s – auch wenn dieser Name auf keiner Karte verzeichnet ist. In diesem Wald wollte ich mich ein wenig herumdrücken und Nachschau halten, Nachkosten vor allem aber die vergangenen Tage in diesem geliebten Erdflecken.

Viel bekam ich nicht zu Gesicht: Herrn und Frau Muntjac wohl und weit auf dem Wildacker draußen einen jungen Bock – alle waren sie vor meiner Kugel an diesem letzten Abend sicher. Ich wollte nicht schießen, wollte mein Erinnern nicht stören durch Knall und Tod. So bummelte ich, als es im Bestand zu dunkel wurde, draußen die Weisen entlang und endlich dem Heinwege zu. Der Weg führt einen langen, mäßig steilen Hang hinauf, durch ein oder zwei Hecken hindurch immer der Waldkante entlang. Es war schon recht spät, als ich durch eine Hecke auf einen Wildacker vertrockneter Seradella kam, der im Winter den Fasanen als Deckung diente. Die Jagd war für mich vorbei, und so war mein Gehen kein Pürschen mehr, als prompt mich vom Waldrand her ein Reh anschreckte. Der Wildkörper war noch gut zu sehen, ich nahm das Glas hoch und sprach das schmälende Wesen als Gaiss an. Grad auf sie zu und Richtung Auto gehen wollte ich nicht, zurück würde ich gehen und dann die Straße entlang. Man muss nicht mehr stören, als man es ohnehin tut. Im Umwenden sah ich aber aus dem Augenwinkel ganz am Waldrand ein starkes Stück Rehwild aus just der Hecke nach links in die Wiese treten, durch die ich eben gekommen war. Wagrecht und stark der Träger, das Gewicht weit vorne im Körper, der Bauch schon durchhängend, alt und reif der Bock. Über den Lauschern aber, weit über den Lauschern blinkten lange, blankgefegte Enden. Darunter war es dick und dicht.

Ich habe in diesem Moment keinen Gedanken mehr gefasst als den zum Schuss: das Dreibein war aufgeklappt, die Büchse in der Schulter, das Ziel gefasst, die Kugel aus dem Lauf. Mündungsfeuer blendete mich. Als ich wieder klar sehen konnte, ging es mir weißlohsiedend durch und durch: der Bock stand noch da, das Haupt krampfhaft vorgestreckt, der Rücken zum Buckel gebogen. Ich lud die Kipplaufbüchse mit zitternden Händen nach, der Bock wandte sich dem Walde zu und zog in einen kleinen Graben, ehe ich noch meine Hände wieder so ruhig waren, dass ich ihm eine weitere, besser treffende Kugel hätte nachsenden mögen. Das Büchsenlicht war rapide geschwunden, und mir war so, als wäre der Bock in diesem Gräblein ins Wundbett gegangen.

Wirr rasten mir Gedanken und Gedankenfetzen durchs Gehirn: bleiben wo Du bist, krank werden lassen, nicht von der Stelle rühren. Heimreise verschieben. Hund holen. Hund? Georges war mit seiner Schweißspezialistin ja nach Hause gefahren, vielhundert Meilen weit fort, und des Gamekeepers Hunde waren wohl prachtvoll auf Fasan und Rebhuhn, auf der Schweißfährte aber gänzlich unbrauchbar. Wie dumm, wie strafbar, grausam, leidbringend dumm hatte ich gehandelt: ein zacher Schuss war es gewesen, weit über hundert Schritt hinaus. Und hatte ich solchen Schuss stehend übers Dreibein wohl mit Erfolg auf die Scheibe geübt, ist’s auf lebendes Wild ein ganz ander Ding, da fliegt der Puls und rauscht der Atem heftiger. Dann noch im allerletzten Büchsenlicht und obendrein auf einen bislang nicht gekannten, aber hochkapitalen Bock. Ich sott im eigenen Schweiß. Und um das Maß des Übels bis zum Rand zu füllen, wurde der Schwerkranke, waidwund Geschossene drüben wieder hoch und verschwand mit langsamem, schmerzhaftem Schritt im Waldesdunkel. Ich schämte mich in Grund und Boden.

Was tun in dieser durch Gier und Dummheit angerichteten Katastrophe? Die Heimreise müsste aufgeschoben werden, frühmorgens wollte ich das Waldstück genauestens absuchen, er würde verendet sein bis dahin. Es würde eine grausame Nacht werden für den Bock, ein langsames Siechen unter grausamen Qualen, ein gnädiges Verdämmern dann irgendwann. Es war nun vollends finster geworden, und mit hängendem Kopf ging ich quer über die Seradella zum Auto. Keine fünfzehn Schritte hatte ich getan, als ich just da, wo der Bock in den Wald gezogen war, einen Schafszaun scheppern hörte. Ja, hier war eine der Weiden des Revieres, und die waren dicht eingezäunt: der Bock musste am Zaune gelegen haben, war vielleicht im Verenden mit seiner starken Krone hineingesunken, oder mit letzter Kraft darunter durch geschloffen. Ich schloss die Augen und ging im Geiste das Gelände hinter dem Waldrand durch: ein steiler Abbruch in einen Graben hinein, durchzogen von zwei uraltverfallenen Steinmauern. Ein oder zwei Haselbuschen darinnen, sonst steiles Gelände, zu unwegsam für einen Bock mit Schuss in kleinem oder großem Gescheid. Ich verdoppelte meine Geschwindigkeit und langte völlig außer Atem nassgeschwitzt am Auto an. Hinten im Fonds lag mein gesamtes Jagdgepäck, darunter auch eine kleine Stablampe, die über kleine gefärbte Birnen blaurotes Licht ausstrahlt, damit man Schweiß leichter finden möge. Mit der wollte ich mich langsam dem Zaun nähern, um dort entweder dem schwerkranken Bock noch einen Fangschuss zu geben oder zumindest das Wundbett genauer zu untersuchen. Das Glas nahm ich von der Büchse, der zu drei Vierteln volle Mond gab mir genug Licht zum Schuss auf kurze Distanz.

Der Bock lag nicht am Zaun. Wohl war die Stelle zu sehen, wo er sich unter dem Drahtgeflecht durchgeschoben hatte, aber auf Schweiß und Pürschzeichen stieß ich nicht. In solchen Momenten lernt man, was Verzweiflung heißt. Ich richtete mich auf, und im Aufstehen fuhr der Strahl meiner Lampe ins Grün des Waldbodens auf der anderen Seite: dort reflektiere es rot. Gescheide. In dem Moment hörte ich weiter unten im Graben einen Körper hangab walgen, ein Krachen von dürrem Holz, dann völlige Stille. Ein Waldkauz rief seine Totenklage in den Wald.

Unten im Graben lag er, verendet an schlechtem Schuss und dank gnädigem Schicksal. Hinten, ganz in den Weichen saß die Kugel, die aufs Blatt gezielt war. Stumm zog ich den Bock den Hang hinauf, lud ihn ins Auto und fuhr zur Wildkammer. Dort saß mein Freund, sah mich fragend an, als ich bleich und am ganzen Körper zitternd aus dem Auto stieg. Ich öffnete die Heckklappe des Wagens und begriff da erst, wie gut, wie stark, wie alt dieser Bock war. Es dauerte eine ganze Zeit, bis ich wieder reden und meinem Freund die traurige Geschichte der Erlegung berichten konnte. Das Stangenpaar meines Bockes ist annähernd so stark wie die rechte, unversehrte Stange des Starken, den mein Freund in der letzten Brunft erlegt hat, die Vereckung aber weitaus besser, das ganze Gwicht über und über fein beperlt und ebenmäßig. Es ist mit Sicherheit mein stärkster Bock überhaupt.

Die ganze Nacht lang, die ganze Fahrt nach Dover dachte ich über dieses Erlebnis nach, und auch jetzt noch mischt sich in die Freude über die starke Beute ein Schuss extraherben Wermuts über all die Fehler und Dummheiten, die ich gemacht habe. Ich danke meinem gnädigen Schöpfer, dass er die Sache für Bock und Jäger hat glimpflich ausgehen lassen.

In Calais löste ich mein auf der Hinreise gegebenes Versprechen ein und berichtete den Zöllnern von den Erlebnissen. Sie entließen mich mit Glückwünschen, Grüßen und dem eindringlichen Rat, meine Büchse eingehend überprüfen zu lassen: nach all dem, was ich erzählt hatte, waren meine Schüsse von Anfang an immer weiter nach rechts aus dem Ziel gewandert. Das könne durchaus mit dem Schützen zu tun haben, es bestünde aber peut etre eine minimale Chance, dass der Fehler in Glas oder Montage läge, meinte der Zöllner, der vor fünf Tagen erst meine Kipplaufbüchse so eingehend kontrolliert, geprüft und gelobt hatte. In Deutschland suchte ich umgehend Büchsenmacher und Schießstand auf, tatsächlich fand ich den Verdacht des Jägers vom Zoll bestätigt: Hat man das Gewehr auf Fleckschuss gestellt, wandert es über fünf danach abgegebene Schüsse bald dreißig Zentimeter nach rechts.

Die Waffe befindet sich jetzt in der Obhut eines befreundeten Spezialisten. Zur Blattzeit, das hat er mir in die Hand versprochen, wird sie fertig und der Fehler behoben sein. Dann führt mich mein Weg wieder durch Frankreichs geschichtsreiche Felder gen Albion.
 
Registriert
16 Jan 2002
Beiträge
3.695
Wie immer ein einmaliger Genuss, Deine Berichte zu lesen. Danke!

Zu lang? Von wegen, viel zu kurz :shock: - noch eine Stunde haette ich weiterlesen koennen!

Ich freue mich schon auf Deinen Bericht nach der Blattzeit :wink: :D

Ach ja: was war denn das Problem mit dem Glas?
 
Registriert
6 Jun 2006
Beiträge
2.997
Waidmannsheil!!

Man kann einfach nicht aufhören, deine Geschichten zu lesen.

Vielen, vielen Dank, und auf dass noch viele folgen mögen.
 
Registriert
29 Aug 2003
Beiträge
343
Super geschrieben Bertram. Danke. Wie bei Gagern - live dabei. Mit dem Blick fürs Detail - aber das Wesentliche nicht ausser acht lassend. Mehr!
 
Registriert
31 Okt 2005
Beiträge
4.112
Bei mir dauert es immer etwas länger so etwas zu lesen! :wink:
Hätte aber ruhig länger dauern können!
Toll geschrieben!Warte auf das was noch kommt!

Lille
 

Neueste Beiträge

Online-Statistiken

Zurzeit aktive Mitglieder
9
Zurzeit aktive Gäste
241
Besucher gesamt
250
Oben