Der Zwölfer

Registriert
21 Jul 2006
Beiträge
570
Ihr Lieben,

war eine Zeitlang etwas still, hab aber fleißig mitgelesen, -gelacht, -gefühlt, -gelitten.
Und selbst wieder was verbrochen.
Vorsicht: ist langes Geschichte!!!

Der 12er


So geschehen zu Charlton Abbotts, des Jahres MMII August den 3., wobei gleich eingangs mit Rilke gesagt sein soll: „Der Sommer war sehr groß.“

Das war im dritten meiner englischen Jahre. Das Revier hatte ich inzwischen soweit kennengelernt, und grad viele wirklich unbekannte Ecken gab es nicht mehr darin. Ich lebte zu der Zeit noch in Deutschland, hatte aber die beste aller inzwischen Ehefrauen noch nicht kennen gelernt und war so in meiner Urlaubsplanung gänzlich frei. Somit war’s ein Klares, dass ich die kleine Zeitenwende da verbringen würde, wo der Mensch hingehört: im Wald.

Apropos kleine Zeitenwende: auch wenn das weder meteorologisch noch astronomisch richtig ist - die Zeitenwende im Sommer ist für mich immer der Wechsel vom Juli in den August gewesen. Johannistag ist dann schon einen guten Mond vorbei, aber erst jetzt merkt man, wie die Nächte ganz allmählich länger werden, wie das Jahr bergab sich neigt und die Tage schneller laufen. Jetzt ist die Hohe Zeit des Rehwildes, der Moment des Jahres, auf den ich am meisten fiebere, und vielleicht auch deswegen Zeitenwende: ein langes Frühjahr, einen schier nicht enden wollenden Frühsommer, Hundstage, die nie vorbei gehen – all das muss ich abwarten, bis man wieder frische Fegstellen sieht im Wald, bis man frisch aufgeworfenen Waldboden riecht, da, wo der Alte geplätzt hat als wollte er sagen: „Obacht, jenseits dieser Demarkationslinie hängen die Watschen dicht an dicht am Strauch“, bis wieder Blattzeit ist. Danach geht alles recht schnell: Rehbrunft, Hirschbrunft, Dambrunft, schnelle Gockeln, wilde Sauen, und dann fängt die Warterei wieder an. Zeitenwende eben.

Jagdherr Tristan und Jagdfreund Georges hatten gebeten, dass ich etwas früher anreise – so um den 22. Juli schon – auch wenn es da mit dem Blatten noch nichts Gescheites wäre. Aber man hatte einen Gast geladen, einen spanischen Herrn, der nicht direkt geführt, eher betreut, wobei auch das nicht der richtige Ausdruck ist: „He needs to be entertained“ – Er sollte halt etwas jagdlich unterhalten werden. Ich sollte übrigens neben der Kuglbix auch die Flinte mitbringen, weil Georges noch anderes jagdliches Entertainment geplant hatte. Ich stieg in den Flieger nach London, wurde dortselbst durch Georges Vermittlung höchstnobel von der Dienstlimousine S.E. des niederländischen Botschafters am Hofe von St. James abgeholt, in der prachtvoll im Park von Kensington gelegenen Residenz untergebracht, vom dortigen Koch nach Strich und Faden gemästet und vom Hausherrn recht schnell auf den sartorischen Teppich geholt. Ich hatte mich trotz der höchstsommerlichen Innenstadtemperaturen auf Mutters Mahnung besonnen, immer anständig und den Landessitten gemäß gekleidet zu sein, dies befolgend mich und meine Fülle in Blazer und Krawatte gezwängt und kam so, rosig glänzend wie ein frischgebrühtes Spanferkel, die Treppe zum Esszimmer herab, an deren Fuße mich der Hausherr und Freund Georges bereits erwarteten, mit offenen Krägen, hoch gekrempelten Ärmeln und die Hände tief in den Taschen ihrer maßgeschneiderten Anzugshosen aus Saville Row vergraben, all dies verbrämt mit dem Kommentar:“Oh, Bertram, successfully disguised as a Gentleman!“ Erfolgreich als anständiger Mensch verkleidet, und zudem angetan mit einem wahrscheinlich jenseits aller Wortgewalt dämlichen Gesichtsausdruck. Was soll’s, ich hab daraus gelernt und bin prompt beim nächsten britischen Abendessen hoffnungslos underdressed und unrasiert zwischen lauter fein herausgeputzten Edelleuten gehockt.

Der nächste Mittag sah uns fern der Hauptstadt in Gloucestershire, genauer gesagt den dortigen Cotswolds, ganz genau in Charlton Abbotts wieder. Große Freude allerseits, speziell seitens des Jagdherren und seines guten Freundes Ranger: ein großer schwarzer Labrador, der, wann immer er mich begrüßte, übers ganze Gesicht lachend die Zähne bleckte und dabei so heftig wedelte, dass man um die Integrität seiner Bandscheiben Sorge tragen musste. Drinks, Umziehen, Abfahrt. Ich hatte den ersten Abend zur eigenen Verfügung, sprich Rekognoszierung des Reviers und steuerte den alten Land Rover von Aussichtspunkt zu Aussichtspunkt. Außer brusthohem Gras war nichts zu sehen. Keine Rehe, kein Brunftgeschehen, noch nicht einmal Hexenringe unterm Trauf am Waldrand, wo sie sonst immer zu finden sind. Nichts. Nur ein Thermometer, das junge 32 Grad wies. Und einen spanischen Herrn, den ich führen, für den ich Blatten sollte.

Der nächste Morgen sah uns früh um halber sechse vor dem Haustor. Wind zu prüfen gab es keinen, es war völlig still, und der Rauch aus der Pfeife stieg kerzengerade in einen wolkenlosen, von den lachsfarbenen Griffeln einer gewissen Eos leicht angeschmierten Himmel. Mein spanischer Herr, mit dem schönen und klingenden Namen Luis Caballero und ich machten uns auf den Weg: kein Auto, grade hinterm Haus den Buckel hoch auf ein kleines Plateau, das querend man in ein tiefes und weites Tal Ausblick hat. Ein gemütlicher Spaziergang von einem viertel Stündchen, hier etwas glasen, da etwas gucken und an der Hecke, die Nicholas Wall hinunter zu Westwood läuft wieder einmal laut fluchen, weil aus dem gewissen Hollerbusch eine schlaf- und womöglich auch (Meran beschreibt es) beerentrunkene Ringeltaube viel zu laut aufprasselt und eine alte Habergeiss mitnimmt, die – hocherfreut über einen Grund zum Schimpfen – laut und nachhaltig schreckend wie des Satans Großmutter höchstpersönlich und mit ihrem Alter angepasst gemessenen Schritten zu Holze fährt. Weiter bergauf, die Hecke entlang, und oben im Eck, wo sie auf den Wald trifft, der so schön „Cherry Tree Hill“ – „Kirschbaumhügel“ heißt in die Morgensonne gehockt und lang das Tal abgeglast, den gegenüber liegenden Waldrand und schräg dahinter die zwei Wiesen, in denen immer was geht und in denen man mangels irgendwelcher Deckung nie was kriegt. Ich habe sie irgendwann „Wildkammer I und II“ getauft. Außer stillstehender Schwülluft und ein paar lendenlahmen Elstern keine nennenswerte Bewegung. Einmal rundherum gepürscht, zwei kurze Gstanzln geblattet in eine breite Wiese hinein, an deren Ende ein altes keltisches Hügelgrab liegt. Vielleicht bummelt ja etwas die Hecken entlang. Tat’s auch. War nur nie so recht zu sehen. Schimmerte nur hie und da rot und tief unter der – man verzeihe den sachlich un-, faktisch aber durchaus angebrachten Ausdruck – unter der Krone der schier mannshohen Grashalme durch.

Luis macht sich zum Schuss bereit, das Dreibein steht und gibt gute Auflage. Ganz verhalten zwei sachte Pfiffe mehr. Kurzes Innehalten, dann weiter schnurgerad vorbei an Wildapfel, Berberitze, Hagdorn auf uns zu. Ich höre die Sicherung gehen, den Stecher einrasten, so, wie ich es dem Schützen gesagt hatte. Keine sieben Meter mehr von uns entfernt leichtes Geraschel im Gras. Atemlos stehen Schütze und Blatter. Dann teilt sich das Halmenmeer, und eine mittelalte Geiss glotzt uns ebenso dumm an wie wir sie. Ob sie gelacht hat weiß ich nicht. Wir schon, lang, laut und schallend. Wenn ich in der englischen Blattzeit eines gelernt habe, dann das: Geissen sind ebenso, wenn nicht noch territorialer wie Böcke. So war ein Morgen verbummelt.

Die Faulpirsch am Mittag brachte ein klein wenig mehr als der Morgen. Das heißt: kein klein, ein großes Mehr. Luis, der spanische Caballero hatte sich eine Siesta ausbedungen, und so waren Georges und ich losgezogen, ein bisschen durchs Revier zu bummeln. Bummelten so die Grenze entlang, schön bergauf, links die für dieses Revier so typischen Wiesen, hochauf das Gras und verbrannt dazu, darunter aber im Zwischengeschoss sozusagen Glockeblume, Klee, Hahnenfuß, stellenweise der Seidelbast. Rechts uralter Bestand, rundwüchsig und gemütlich, wie die Buche ist, lässt man sie zwei und dreihundert Jahre alt werden. Und wir mittendrin, bummeln den Hohlweg bergan, diskutierend die Frage, ob denn ein Revier in England zu führen sei, wie es das gut teutsch Weydwerck vorschreibt. Kommen darüber auf die Höhe, und links blickend fährt ihm wie mir eine Gedankenlitanei durch den Kopf, die im selben Ende mündet: Tristan, der Jagdherr, hält einen mit „exceptionell“ noch nicht annähernd zu umschreibenden Keller an Weinen des Bordeaux und der Bourgogne, aber halt auch eine sehr englische Köchin. Nichts gegen ihre Mehlspeisen. Die sind exquisit und bleiern schwer. Der Rest ist abominabel. Und nach einem ebensolchen Mittagessen steht da links neben uns in der Wiese ein dicker, dummer, ich weiß nicht mehr wie veranlagter, aber nudelfeister Jahrling. Ich will Georges noch zuraunen: „Da steht unser Abend...“, aber bevor ich Essen sagen kann, donnert es schon neben mir, und der Jahrling sackt, sauber aufs Kragenknöpfel geschossen, in sich zusammen. Letztlich ist nur solches Jagen echtes Jagen: Nahrungserwerb, Abwendung von Hunger und Not. Und man glaube mir: eine echte englische Köchin ist eine wahrhafte Notsituation.

Wir waren rasch wieder zu Hause, ebenso rasch der Ziemer ausgelöst, die Knochen kleingehackt und zum Soßerl reduziert, die Rückenstränge und Filets zu Steaks geschnitten und a la minute in brauner Butter angebraten, nur mit etwas Pfeffer, Salz und Muskat gewürzt – die Leber aber gab’s vorneweg, leicht bemehlt und bekümmelt, und Tristan hatte einen ganz perfekten alten Bordeaux dazu. Nichts geben die Götter ohne größte Mühe dem Sterblichen. Das wusste der alte Horaz. Der Herrgott aber schenkt’s den Seinen mit voller Hand, ohne Müh’ und Gegenrechnen. Das weiß ich.

Ich weiß auch, dass ich abschweife, dass ich noch immer nicht beim angetitelten 12er bin und beim des Jahres MMII August, sondern immer noch in dessen Juli stecke. Aber was anderes tun, wenn die Zeit so voll war, und so schön? Kann nur den lieben Leser bitten, dass er es leiden möge.

Der 24. Juli war vorüber, der fünf- wie der sechsundzwanzigste desselben. Kein Bock geschossen außer dem erwähnten Jahrling. Luis Caballero hatte das Revier genauestens kennengelernt und war – sagen wir -höflichst bemüht, seine Enttäuschung nicht merken zu lassen. Ihm waren fette englische Böcke versprochen worden, sonder Zahl und auf ein Zauberpfeiflein hin hoch über Hecken setzend, sothan auch noch einen schönen flüchtigen Schuss bietend. Und gewesen war’s nix. Bislang zumindest. Am 27. Julei, ein Samstag, waren wir wieder draußen. Der Blatterei hatten wir uns ob kompletter Sinnlosigkeit sauber enthalten und waren zum reinen Beobachten übergegangen. Langsam waren erste Hexenringe zu sehen in den Wiesen, den ein oder anderen Bock konnte man auch bei der Geiss stehend beobachten, die Brunft kam in Gang.

Wir hatten an diesem Samstagmorgen hoch über einem Einschnitt aufgepflockt. Kurz etwas zu „hoch“ in Gloucestershire: das heißt einen Unterschied von 230 m über N.N. zu 250 m über N.N., aber der Abbruch ist steil genug, und der Blick in die Wiesen vis a vis ausreichend, denn die liegen nur auf 235 m, und somit 15 Meter unter uns. Und da drin leuchtet es rot, und es bewegt sich unstet, ungrad, unruhig. Es sucht. Er sucht. Gute vier bis fünfhundert Meter von uns weg. Zwischen Bock und uns eine Hecke, zweihundert Meter von dort, wo wir sitzen. Und so lassen wir uns auf dem Hosenboden den Abbruch hinab, bis wir im Tal sitzen, die Hecke grad auf 70 Meter gegenüber, und zwischen Heck- und Wiesenrand ein kleines Streiflein, wo das Gras nieder genug ist um ansprechen und schießen zu können. Jetzt gilt es nur noch, den Bock aus der Wiese und durch die Hecke zu rufen. Gott sei Dank hat mein Großvater gottselig Blatter gebaut, die über die weiten Almböden seines steirischen Reviers hinlangten, somit auch durch britische Hecken tragen. Trotzdem war’s langes Locken und Spotten, bis der Bock durch die Hecke trat, misstrauisch, unstet, unruhig äugend. Ein Nicken, ein Rucken, ein Fallen. Und gerade, als ich mich mit Luis freuen wollte über den Bock, als wir die Spannung von uns gleiten lassen wollten, reden wollten und lachen und laut, deutet er nur kurz rechterhand mit dem Kinn, ich drehe den Blick und abermals ein Nicken, ein Rucken, ein Fallen: von hinten, von oben, war uns unbemerkt ein weiterer Bock zugestanden im hohen Gras. Blattdoublette. Die Böcke waren nichts Rares. Das Jagen dagegen schon.

Luis war wieder gen Spanien gereist, und Georges hatte ein Ansinnen: ein ihm bekannter Berufsjäger, großer Kenner des einheimischen Rehwildes, hatte anlässlich einer Diskussion behauptet, dass englische Böcke taub wären aufs Blatt. Alles täten, aber nur nicht sprängen. Er habe es mehrfach probiert, in seiner beiden Jagdherren Reviere, von denen einer ein hoher englischer Militär, der andere aber ein deutscher Fürst. Nachdem aber Georges gesehen und erlebt hatte, dass die Böcke des Inselreichs sehr wohl aufs Blatt reagierten, sogar nach Pfiff und Richtung zu steuern wären, hielt er es für ebenso notwendig wie angebracht, eine Lanze für den Rehruf zu brechen, und sein Champion sollte nun ich sein. Wie ich zum Ruf des „roe deer expert“ in England gekommen bin, das habe ich schon an anderer Stelle hierin beschrieben. Jetzt galt's. Und zwar nicht nur meinen Ruf, sondern auch den meines großzügigen Jagdfreundes und vielleicht gar des Paradieses ad venandi, das der Herrgott in der Fülle seiner Güte mir geschenkt hatte. Denn der englische Jagdherr des skeptischen Berufsjägers hatte an den kapitalen Böcken in seinem Gewann keinerlei Interesse, und so führte sein Keeper ausländische Jagdgäste mit Genehmigung auf eigene Rechnung. Und diesen Gästen sollte ich nun in einem mir völlig fremden Revier Böcke herblatten. Wer sich für fünf Cent mit dem Rehruf auskennt weiß, dass das eine keine ganz einfache Angelegenheit ist. Ist doch Ton und Melodie gänzlich zweitrangig, gemessen an den Fragen: Wo? Und auf welchen Bock blatte ich? Philipp Meran schreibt der richtigen Wahl des Blattstandes allerhöchste Priorität zu, und meine bescheidenen Erfahrungswerte sagen das selbe: mag die fliederne, buchene, lorbeerne, die hölzerne, plastikne, rehhörnerne oder Gummi-Geiss auch noch so perfekt bedient sein – wer das Instrument am falschen Fleck spielt, kriegt nicht nur keinen Bock zu Gesicht, er macht im Zweifel mehr kaputt, als er ahnt. Und Ahnung darüber, welcher Bock sich in diesem Revier wo herumtreibt hatte ich ungefähr soviel wie der durchschnittliche Maulesel vom Brezelbacken.

Gott sei Dank hatte mein englischer Skeptiker sein Revier im Griff: Besser als so mancher deutscher Berufskollege wusste er über das Wer und Wo in seiner Böcke Bürgerschaft auf das genaueste Bescheid. Was sehr zu meiner Erleichterung beitrug, denn in dem reizenden, auf einem kleinen Hügel leicht umparkt stehenden, viktorianischen Cottage, in dem der Keeper wohnte, fand ich zweierlei vor: zum einen eine französische Übersetzung der Rehwild-Monographie meines Großvaters in intensiv studiertem, sprich zerlesenem Zustand, und zum anderen den zu führenden Jagdgast, der mir wohl bekannt war: ein junger Industrieller aus Luxemburg, mit dem ich bereits ebenso gern wie erfolgreich im Großherzogtum auf Sauen, Hirsch und Reh gejagt hatte. Mir fuhr es bei beiden Anblicken gleich siedendheiß durchs Gebäude, weil mir klar war: wenn heute nicht mindestens ein Bock aufs Blatten hin aufs Blatt die Kugel kriegt, dann ist nicht nur jagdlich mein persönlicher, sondern auch der Ruf des ganzen Hohen Hauses mütterlicherseits sowohl auf den Inseln als auch auf dem Kontinent adieu. Mahlzeit.

Der Keeper und seine ausnehmend nette Frau ließen uns nicht in den Wald, ehbevor wir uns nicht mit High Tea, dick mit glänzender Sahne bestrichenen Scones, herrlichen Gurkensandwiches (bei Hitze eine der erfrischendsten Dinge auf Gottes schöner Welt) und anderen Delectabilitäten saturiert hatten. Die Zeit des Fouragierens nützte ich aus, um Keeper Dominic genauestens über seine bisherigen Blattereien zu interviewen: Wann? Meist ab Mitte Juli, also zu früh. Womit? Buttlolo-Mundblatter, gutes Instrument. Wo? Hie und da, immer schön weit weg vom Einstand und mit gutem Ausschuss und Blickfeld, also grad falsch. Dieses Jahr schon? Nein, weil durch Unmöglichkeit des Erfolgs frustriert habe er schon seit zwei oder drei Jahren auf die Pfeiferei gepfiffen, wolle sich aber durchaus gern einmal ansehen, wie denn ein Deutscher, noch dazu renommierter, ihm als Experte beschriebener blau bla bla. Wir zogen los.

Der erste Blattstand sollte direkt an einer von altem Buchenbestand umschlossenen und mit Strauchwerk durchzogenen Waldwiese sein. Ich bat Keeper und Gast weiter in den Bestand hinein, und ca. 60 Meter vom Saum entfernt postierte sich der Schütze hinter einer dicken, alten Buchendame, der Keeper und ich nahmen bequem in ihrem bemoosten Wurzelfauteuils Platz. Nach zwei, drei ganz verhaltenen, leisen Rufen war die Anwesenheit eines Rehs zwar nicht zu hören, aber wir konnten alle drei auf der Nackenhaut fühlen, dass uns jemand von hinten ansah. Genau ansah. Sehr genau ansah. Das Umdrehen des Kopfes erfolgte circa in der Geschwindigkeit eines Minutenzeigers und zwischen Haselstauden und Buchenverjüngung glotzte uns ebenso blöd wie herzig eine Schmalgeiß an. Reckte auch schön und grazil das Trägerlein, trippelte ein Schrittlein links, dann wieder rechts, versuchte auch ein nicht wirklich ernstzunehmendes Scheinäserle, um sich dann wippenden Spiegels zu empfehlen.

Um mich eben mal jagdlich bis aufs Unterkleid zu entblößen: ich trage die vielgescholtene schwarze Gummigeiß aus dem Hause Buttolo bei jedem Blattgang mit mir. Sie steckt in einer ledernen Gürteltasche zusammen mit allem anderen Krimskrams, und sie hat mir oft, und so auch jetzt, herausragende Dienste geleistet. Einmal aufs Leder gedrückt, und die Schmale wurde langsamer. Ein zweites Mal, und sie legte einen sliding stop hin, als wäre sie ein von John Wayne persönlich gerittenes Quarter Horse uramerikanischster Bauart. Jedenfalls flog die Buchenstreu nur so durch den Bestand. Und dann tanzten Schmalgeisslein und ich unseren Reigen: einmal hin, einmal her, rundherum verbot der Wind, aber auch sonst war es nicht schwer, die junge Dame nas- respektive ohrzuführen. Irgendwann sah ich sowohl den Schützen als auch den skeptischen Keeper konvulsivisch zuckend, fest in den Ärmel beißend in Lachanfällen sich winden – das heißt: Mademoiselle sah es auch und empfahl sich unter ennuyiertem Geschreck.

Bei Keeper wie Jagdgast war das Eis damit gebrochen, und es wurde ein ausnehmend lustiger Blatt-Tag. Das Revier war in bestem Zustand, das Geschlechterverhältnis besser ausbalanciert als auf mancher kontinentalen Rehwildjagd, und wir bekamen blattend und pirschend zahlreiche Böcke in Anblick. Zum Schuss an sich war aber keiner recht: viele junge, gut veranlagte, sehr wenig alte, aber dafür reichlich geriebene Herren, die jede Deckung ausnützend uns den Wind zu stehlen suchten und damit leider halt doch immer wieder Erfolg hatten. Irgendwann, am früheren Nachmittag wurde die Sache ein wenig eintönig: dem Schützen merkte ich an, dass er seine arg beanspruchte Konzentration nur mehr aus reiner Höflichkeit aufrecht erhielt, aber der Keeper trieb uns weiter an: hier noch, und dann da, und dort wäre es auch noch bestimmt, ganz sicher, und überhaupt. Wir hatten diese Suada schon mehrere Stunde gehört, und langsam wurde zunehmend deutlich: Entweder es kracht des Jagdgastes Büchse. Oder es kracht des Jagdgastes Geduld in sich zusammen. Krach war somit schlicht nicht mehr zu vermeiden. Ich befragte den Keeper daher ziemlich eingehend, ob und vor allem wo er alte, in Worten ALTE Böcke wisse. Mit ein wenig investigativem Bohren kam dann folgendes heraus: es gebe da einen völlig überwucherten, verwilderten Revierteil, vielleicht ein bis zwei Hektar groß, da habe er immer wieder ältere Herren gespürt. Aber zu machen sei da gar nichts, man käme nicht einmal still hinein, Ausschuss sei vielleicht auf fünfzehn, soll sein zehn Meter gegeben. Nur in der Mitte sei eine kleine freiere Stelle, wo zwei alte Pfade rechtwinkelig aufeinanderträfen, zu wollen sei da also wirklich rein gar nichts. Ja, geblattet habe er in der Gegend auch schon mal, im umrundenden Kieferbestand gäbe es schöne raume Lücken, da könne man schön weit sehen, da werde man auch gut fertig. Aber die Böcke kämen halt nicht aufs Blatt.

Der Plan war schon während der Beschreibung des Einstandes klar. Dass der luxemburgische Jäger blitzschnell zusammenkommen konnte, das wusste ich von mehreren Drückjagden, auf denen ich ihn beobachtet hatte. Dass er Keeper seine Böcke kannte, hatte er hinlänglich klar gemacht und bewiesen. Und dass es langsam Zeit wurde für Bock und Bruch, auch das lag auf der Hand. Wir pürschten nicht, wir gingen wie ganz normale Spaziergänger oder Waldarbeiter zu der Krautinsel und mitten hinein. Ich setzte mich genau da, wo die beiden erwähnten Pfade sich kreuzen auf den Boden, der Keeper stand neben mir und Rücken an Rücken mit ihm der Schütze. Das Zielfernrohr seiner Büchse hatte er abmontiert, denn die weitestmögliche Distanz, auf die er hätte schießen können, waren dann doch respektable zehn Meter. Alles übrige ging schnell und glatt von der Hand: am Blattstand nach fünf Minuten zwei kurze Fieper, ein Rumpeln im Busch, rotes Leuchten auf der Schneise, ein scharfer Pfiff, ein gezischtes „Shoot!“, und ein sehr anständiger, gut siebenjähriger Bock begab sich auf den Fernwechsel zu jenen lichten Auen, wo die Geissen immer brunftig, die Rivalen immer schwächer und die Wiesen stets voll saftiger Kräuter sind.
Als wir den Bock versorgt hatten, befand der Keeper ganz richtiger eise, dass es jetzt Zeit sei für einen wenn auch etwas verspäteten Lunch, und weil man zahlenden Jagdgästen auch etwas bieten muss, war besagter als Picknick an landschaftlich reizvoller Stelle schon vorbereitet. Als wir nach kurzer Fahrt bei diesem zwar unorthodoxen, aber hochwillkommenen Knödelbogen eintrafen, warteten schon Georges und der Assistent des Keepers auf uns – mit erwartungsvollem Grinsen und gut gekühlten Bierflaschen. Und während genauer Bericht erstattet wurde, hatten der Keeper und sein Assistent im Handumdrehen einen kleinen Grill aufgebaut, darauf ganz wunderbar aussehende Steaks zubereitet, und als dann noch ein sehr ziemlicher Bordeaux auftauchte, kannte des Jägers Glück – ganz anders als im Cramer-Klett’schen Buchtitel – langes und intensives Verweilen.
Wir saßen gemütlich sowohl Erlebtes als auch eben Genossenes verdauend da und blickten vom leicht erhöhten, am Waldrand gelegenen Grillplatz auf ein langes, langes, erst kürzlich abgeerntetes Bohnenfeld hin. Mehr beiläufig erwähnte der Assistent des Keepers, dass da unten, hinter der dritten Bodenwelle, auf acht oder neunhundert Meter, ein Reh stünde. Und das es sichtlich ein Bock sei. Der Keeper zog aus Situation und Aussage zwei zwar diametral konkurrierende, aber für sich genommen absolut logische Schlüsse. Aus der Aussage den, dass was auf neunhundert Meter mit freiem Auge als Bock erkennbar, aus Schussnähe meistens interessant sei. Aus der Situation den, dass er nach Blatterei, nach Speis und Trank weder willens noch fähig sei, eine Pürsch zu führen. Vor allem letzteren teilte ich ob der wohlig-dämmrigen Wirkung von Wein und Waldsaum zur Gänze. Wäre da nicht wie eine kleine, gemeine Schlange zuschnappend noch der Satz gekommen: wie eine kleine, gemeine Schlange zuschnappend noch der Satz gekommen: „Aber wenn mein Gast Lust hat auf diesen Bock, vielleicht kann dann unser deutscher Experte die Führung unternehmen…“ Ich wollte noch erwidern, dass der Jagdgast bei so einfacher Pürsch wohl kaum der Führung bedürfe, stand der Bock doch gut gedeckt hinter einer Bodenwelle, der Wind günstig und der Waldrand mit hinlänglicher Deckung dicht am Rand des Feldes. Aber leider befand seine Majestät der Gast die Idee für ganz wunderbar, und Georges sekundierte ihm auch noch dabei. Stand daraufhin auf, ging zum Auto und entnahm den unergründlichen Tiefen seines Kofferraumes eine weitere Flasche Bordeaux, ein Stativ und ein Spektiv, eröffnete somit für sich, den Keeper und den Assistenten die ersten Waldlichtspiele von Südwest-England. Auf dem Programm der Wald- und Wildkrimi „The Stalk“, in den Hauptrollen ein luxemburgischer Waidmann und meine niedere Lebensform.

Wer jemals eine solche Theaterpürsch gemacht hat, der weiß, dass es deutlich angenehmeres gibt. Von hinten bohren sich sechs Augen in den Rücken, und vorne, irgendwo auf dem Acker, steht ein Kapitalbock. Und noch dazu war Pürsch alles andere als einfach: zum einen war der Weg neben dem Feld aus staubtrockenem, kalkigen Miniaturgeröll, das bei jedem Schrittganz wunderbar knirschte. Im Acker zu gehen war auch keine Alternative, denn das Bohnenstroh war trocken und raschelte ebenso laut wie der Kalk-Grus auf dem Weg knirschte. Und zudem konnte sich der schwache Windhauch dieses Sommernachmittags von Bodenwelle zu Bodenwelle nicht so recht entscheiden, wohin er eigentlich wehen wolle. Kurz gesagt: wir mussten ein gut Stück in den Acker hinein, um aus dem dauernd drehenden Wind zu kommen, wobei wir uns wegen des Strohs nur mit staksenden Schritten mehr oder minder auf Zehenspitzen vorwärts bewegen konnten. Nota bene: Jagdstiefel eigenen sich nicht für Spitzentanz. Den Zuschauern hinterm Spektiv dürften wir erschienen sein wie Kalif Storch und sein Großwesir kurz nach der Verwandlung. Irgendwie glückte dieser pas de deux besonderer Art, und der Gast kam auf einen hohen, aber nicht sonderlich starkstangigen Bock zu sauberem Schuss und Waidmannsheil. Auf der spätabendlichen Rückfahrt nach Charlton Abbotts suche ich von Georges zu erfahren, was es denn an Kommentaren seitens der Zuschauer hinterm Spektiv gegeben hätte. „Oh, nichts, nichts. Wir haben euch einfach nur zugesehen.“ Das Angenehme an Georges ist, dass er, der über eine Zunge wie ein schottisches Breitschwert verfügt, gleichzeitig schweigen kann wie einer dieser in ihrer Formvollendetheit tödlich nervenden Gentlemen.

Wie gesagt, der Sommer war sehr voll. In meiner Unbedarftheit und nicht mit Georges Organisations-Talent und –freude rechnend hatte ich gelegentlich einmal geäußert, dass Taubenjagd auch Spaß machen würde. Ich hatte davon im Gagern jr’s Buch „Tire Haut gelesen, dort war ich auch zum ersten Mal dem Namen „Archie Coats“ begegnet. Major Coats war nicht ein, er war der Taubenjäger im Königreich der 50er und 60er Jahre. Nicht nur wusste er sie zu treffen, viel wichtiger und wertvoller wusste er sie anzutreffen. Hatte durch genaue Beobachtung des echten Wildvogels Ringeltaube herausgefunden, welche Ackerfrucht in welchem Stadium der Saat, Ernte und Unterpflügung die Tauben anzufliegen pflegten, hatte beobachtet, dass, wo und warum es Flugstraßen gab, wusste, wie ein Schirm zu stellen und wie die Locktauben zu setzen seien – die Lebensstrecke des Mannes spricht Bände: die letzte mir bekannte Zahl stammt vom Jahre 1960 her. Da waren es 290.000 (zweihundertundneunzigtausend) Tauben, die er seiner Flinte zurechnen konnte. Und damals stand Major Coats noch in der vollen Blüte seiner Jahre. Die weitere Hochrechnung mag der Leser selbst anstellen. Coats’ Bücher gelesen habend, all die wundersamen Lockgeräte wie Pigeon Magnet oder Taubenkarussell auf den Game Fairs Englands gesehen habend, die Kultur des Pigeon Shooting ahnend und Blattzeit für Blattzeit, Pürsch für Pürsch von diesen präpotenten, fetten, graublauen Mistkratzern, die beim leisesten Ästchenknacken laut prasselnd aufsteilen und damit jedem Tier im Walde die Anwesenheit des Feindes Mensch kundtun, von diesen Tieren bis aufs jägerische Blut gepiesackt – wen wundert’s, dass ich auch einmal meine Flinte an den Schnäbeln dieser Waldpolizei wetzen wollte?

Georges hatte alles in seine bewährten Hände genommen, mir im Januar geheißen, für dieses Jahr nebst Büchse auch Flinte aufs zwölf Monate gültige „Visitors Permit“ setzen zu lassen, und als ich zur Blattzeit nach Charlton Abbotts kam, ließ er mich noch in London wissen, dass er seinen „Pigeon Man“, einen Mann namens Richard Lovell bereits von meinem Wunsch informiert hätte. Richard Lovell ist ein professioneller Pigeon Guide, eine Spezies Berufsjäger, die es etwas genauer zu beleuchten gilt: der Pigeon Guide lebt davon, der Mittelsmann zu sein zwischen geplagtem Bauern und interessiertem Jäger. Sagen wir, ein Gemüsebauer im Süden Englands hat 4 acres, also ca. einen Hektar Bohnen angebaut. Der Sommer und damit die Ernte kommen, und naht dieser Zeitpunkt, hängen die Bäume am Feldrand voll mit graublauen Räubern. Ein starker Flug Tauben nimmt einen Hektar Feldfrucht quasi als ein reichlicheres Hors d’Oeuvre – was der Schaden für den Bauern ist, das mag man sich ausrechnen. Der Bauer wendet sich daher an den Fachmann, den Pigeon Hunter, dessen Aufgabe es nun ist, die Felder des Bauern vor den Saaträubern zu schützen. Und eine unter vielen Strategien ist diese: durch geschickten Einsatz von Sproutguns, gut österreichisch Klapotetzen, gut deutsch Schreckschussapparaten die Tauben nicht einfach nur zu verscheuchen, sondern sozusagen heiß werden zu lassen, bis sie voller Gier und wenig bedacht sich auf ein bestimmtes, meist frisch abgeerntetes Feld stürzen. An diesem Tage dann Jäger geschickt an den Flugstraßen zu postieren, vor ihnen ein Locktauben entsprechend zu setzen und sie dann Ernte halten heißen. Am späten Nachmittag, wenn der Taubenflug abebbt, kassiert er dann vom Jäger die vereinbarte Summe, späteren Abends dann womöglich auch noch vom Bauern anhand der Strecke ein entsprechend Kopfgeld, was natürlich geringer ausfällt, hat er doch durch den quasi Schutzgeldvertrag mit dem Bauern das Jagdrecht auf der Feldfläche erworben.

Richard Lovell hatte Georges wissen lassen, dass der Stichtag auf die Tauben, die wir schießen sollten, in einem Drei-Tages-Fenster von 30. Juli bis 1. August lag. Dementsprechend hatten wir auch unsere Blatt-Überzeugungstage in Hampshire geplant, und kaum waren wir von dorten wieder in Charlton Abbotts, Gloucestershire angelangt, klingelte es am Telefon: das besagte, von den Tauben heiß ersehnte Bohnenfeld sei frisch geerntet, man träfe sich morgen in der Früh um halber neune in Bowerchalke, einem 378-Seelen-Dorf nahe Salisbury in Wiltshire, ein Örtchen, dass gewisse Berühmtheit genießt aufgrund der Tatsache, dass es in einer der schönsten Gegenden Südenglands, den Downs, liegt. Auf dem von diluvialen Bewegungen tief ausgewaschenem Kreidegrund steiler Abbrüche, ja, fast Schluchten, wächst heute in der vom nahen Ärmelkanal salzgeschwängerten Luft fettes, grünes Gras. Und auf der Fahrt dorthin, von Norden her kommend, sieht man allenthalben große, weiße Pferde an den Abhängen. Groß heißt hier: knapp 20 Mannsschritt im Widerrist – Risszeichnungen sind es, mal viel, am wenig hundert Jahre alt, zu Fuß ward die Grasnarbe abgeschabt bis auf den Kalk, und so werden die White Horses im Süden Englands heute noch gepflegt und gegraben.

Der Morgen fand uns zur verabredeten Zeit im Ortskern von Bowerchalke, und mir war schon durch günstige Omen klargemacht, dass dies ein großer, einer von den mit roten Buchstaben im Kalender markierten, ein „Red Letter Day“ werden würde. In meinem Schlafzimmer in Charlton Abbotts lag nämlich ein großer Staple alter Jagdzeitschriften, und in einer der Sonderausgaben von Shooting Gazette oder The Field war auch ein langes Feature über das Taubenjagen, worin Richard Lovell als einer der jüngsten, aber fähigsten Professionals auf diese Wildart genannt war, mit Bild und allem, was dazu gehört. Und richtig entstieg an jenem 1. August 2002 einem schmutzüberkrusteten Range Rover eine nicht sonderlich große, aber dafür britisch stout and square vertrauenerweckende, ständig breit grinsende Gestalt, begrüßte Georges mit „Morning, Baron“, mich mit einem „Morning, Sir“, ließ meine ausgestreckte Rechte in der Landschaft hängen, weil ein Handshake unter Wildfremden sehr und ausschließlich kontinental daherkommt und hieß uns, im Local Store unseren Proviant erstehen, weil wir über den Mittag hinweg jagen wollten. Groß die Freude, dass es in einem Dörfchen von gezählten 378 Seelen im Süden Englands ein Lädchen gibt, das überaus genießbare Patés, frisches, knuspriges Weißbrot, eingelegte Oliven und dergleichen Friandisen mehr feilbot. Das Fouragement abgeschlossen, ging es in Georges’ Jeep dem Rover des Guides hinterdrein, das Dorf hinaus einen Hohlweg leicht bergan, dann über eine Höhe hinweg, bis wir, leicht unterhalb des höchsten Punktes an eine nordwestwärts gewandte Hecke kamen. Richard Lovell hatte darin zwei Stände vorbereitet, mit Tarnnetzen sorgfältig vor dem scharfen Blick der Tauben verborgen, exakt dort gelegen, wo die beiden durch tagelange Beobachtung festgelegten Hauptflugstraßen die Hecke kreuzten. Das, was unmittelbar nach der Ankunft dort geschah, war für mich Taubenneuling überaus spannend, ja, verblüffend.

Richard hatte bereits mit teils am Vortag geschossenen, teils aus Plastik mit beflockter Oberfläche erzeugten, auf Wippen montierten Locktauben ein Bild in den Boden gelegt, ein „Layout“, wie es dort genannt wird. Aus seinem Auto holte er eine Anzahl Federstäbe, auf die er Vortags geschossene, bereits ihrer köstlich zu verzehrenden Brüstchen beraubte Tauben mit ausgebreiteten Schwingen montierte, so dass diese, im Winde wippend, beständig einzufallen schienen. Zudem holte er einen kleinen, aber starken und an eine Autobatterie angeschlossenen Elektromotor hervor, der ein dreiarmiges Karussell antrieb, an jedem Arm eine ebenfalls auf federndem Stab angebrachte Taube mit ausgebreiteten Schwingen hing, deren drei, beständig kreisend, wiederum den lebenden Geschwistern reges Treiben und wohl gedeckten Tisch anpriesen. Richard hatte diese Vorrichtung keine 50 Sekunden in Betrieb, als bereits die ersten Ringeltauben daneben einfielen: wohlgemerkt keine 70 Meter von zwei Geländewagen, drei Jägern, zwei freilaufenden Hunden und jeder Menge unwaidmännischen Lärms entfernt. Er brachte einen weiteren derartigen Taubenmagneten vor Georges Stand an, setzte sich in seinen Geländewagen und empfahl sich. Ich hatte eigentlich fest damit gerechnet, dass er als Professional Hunter bei einem von uns zweien im Stande geblieben wäre. Hatte aber keine Zeit nachzudenken, da ich augenblicklich das Feuer zu eröffnen mich gezwungen sah, allein ob der schieren Menge Wildes, das einfiel.

Im Vergleich zu den schusstechnisch äußerst herausfordernden, weil zumeist extrem hoch und schnell fliegenden Fasanen Englands ist mir die Ringeltaube dort und anderswo zu Land bedeutend lieber, werter. Es ist Jagd auf wirkliche Wildvögel, zudem noch ein Dienst an der Landwirtschaft und deren Erträgen. Und darüber hinaus bieten diese Tauben Schüsse jeden erdenklichen Schwierigkeitsgrades: hoch und pfeilschnell im sonnenblauen Himmel, sanft und langsam einfallend, aber gegen den Hintergrund der Hecken und des Feldes kaum auszumachend. Links, rechts, oben, hinten, vorne – sie waren einfach überall. Stand ich aber auf, um sie, wie ich es von den Fasanen gewohnt war, sicheren Standes und im ungebrochenen Schwung vom Himmel zu holen, riss der Flug augenblicklich ab. Sitzend zu schießen hieß das Geheimnis, und selten nur, dann, wenn die Taube recht hoch, fast außer Reichweite der Schrote war, war es möglich, aufzustehen und sie mit dem ganzen Körper schwingend herunter zu holen. Zudem hatte Georges mir eingeschärft, wie gut das Augenlicht dieser Vögel sei: dass sie jeden hellen Fleck sofort erspähten und denselben weiträumig mieden, daher er mir einen tarnnetzenen Sack gegeben hatte, den über den Kopf zu stülpen er mich anwies. Ich habe ausgesehen wie das, was wir im Allgäu einen Steckel nennen: halb blind vor Tarnflecken und Netzgewebe, zudem schwitzend in der Stauhitze dieser Tarnkappe, die nicht nur mich vor dem Wild, sondern auch dasselbe vor mir verbarg. Irgendwann riss ich mir das Ding vom Kopf, um überhaupt atmen zu können zwischen Doppelschuss und Nachladen. Kaum aber war mein weißer Kürbis den Blicken der Tauben hüllenlos dargestellt, mieden sie mich. Wahrscheinlich hätte ein mir in diesem Augenblick vorgehaltener Spiegel ein solches Maß an geiler Gier offenbart, dass ich selbst einen großen Bogen um mich gemacht hätte. Eine Handvoll Erdreich, das ich mir in die weißrot und schweißglänzende Fläche meines Antlitzes schmierte, half. Die Tauben kamen wieder, und in der Hitze des Sommertages war ich froh, dass ich Handschuhe bei mir hatte: die Läufe meiner Doppelflinte wurden heiß. Doppelschuss auf zwei einfallende Tauben: eine geht in Federwolken zu Boden, die andere stielt entlang der Hecke auf, beständig an Höhe und Fahrt gewinnend, bis sie abrupt gestoppt sich überschlagend zu Boden fällt. Leise erklingt zeitverzögert ein sanftes „Plopp“ aus Georges 20er-Flinte achtzig Schritt neben mir. Weit vorne und hoch am Firmament streicht eine weitere direkt im Stich auf mich zu: aufnehmen, zudecken, vorschwingen, abdrücken. Blöd glotzen, weil der Vogel unbeirrt weiterfliegt und sich gen Süden empfiehlt. Eine Bewegung im Augenwinkel, ein Anschlag ohne zu wissen, ein Schuss, ohne zu ahnen, in sanfter Parabel fällt eine Taube aus dem Sommerhimmel weit draußen in den Acker. Es war noch lange keine Stunde verstrichen, da war mir siedend heiß, die Patronenschachtel vor mir ging bedenklich zur Neige, der Schweiß troff nicht, sondern rann mir den Rücken hinab und mein Kreislauf gierte nach Zucker, Fett oder sonst welcher Unterstützung. Wie durch ein gütiges Schicksal riss der Flug bei mir ein wenig ab. Die Doppelliter-Wasserflasche war in einem Zug bis zur Hälfte geleert, als neben mir ein Geländewagen durch die Hecke rauschte. Richard Lovell war wie aus dem Boden gezaubert wieder da, warf einen mild-süffisanten Blick auf meine aufgelöste Erscheinung und machte sich am gestreckten Wild zu schaffen.

Die Jagd mit einem Pigeon Guide ist sicherlich nicht die billigste, auf Ringeltauben zu jagen (wenngleich in den Kosten immer noch weit unter jeder erdenklichen erkauften Flugwildjagd), hat aber einen ganz bedeutenden Vorteil: man befindet sich in den Händen eines echten Profis, der nur ein Interesse hat: an diesem Tag so viele Tauben wie nur möglich zur Strecke zu bringen – zum einen um den Jagdgast, zum anderen aber und viel wichtiger den Jagdherren, den Bauern, zufrieden zu stellen. Richard war von dem Moment an, da er uns auf unseren Ständen den Tauben überantwortet hatte, mit seinem Rover alle umliegenden Felder abgefahren und hatte die dort liegenden Tauben mit Hebschüssen hochgemacht. Hatte gleichzeitig am Himmel genau beobachtet, ob an unseren beiden Ständen der Flug satt und voll lief. Wenn je das nicht der Fall war, erschien er – so wie eben jetzt – umgehend, um zu kontrollieren, ob eine der geschossenen Tauben auf dem Rücken lag, den hellen Bauch zeigend, den anderen zur Warnung, dass hier nicht reiches Futter, sondern Blei und Tod lauerten. Richtete alles so her, wie es sein sollte, und empfahl sich wieder.

Das Brot, fingerdick mit Paté bestrichen, das ich mir mittels Taschenfeitel während des Guides ordnenden Eingriffes gerichtet hatte, bleib mir ohne Abbiss zwischen den Zähnen hängen, so augenblicklich setze der Flug wieder ein. Und langsam ahnte ich, warum die Engländer die Flugwildjagd als „Sport“ bezeichneten: das hier war Hochleistungstraining sowohl für Koord- als auch Kondition: Schießen ohne Unterlass. Stets waren Tauben da, in jedem erdenk- und erwünschbaren Winkel, in jeder Geschwindigkeit und Höhe. Ein oder zwei hohe, schnelle Erzengel zur Hebung des Selbstvertrauens, einige mehr flach einfallende zur Hebung der Strecke und des Patronenverhältnisses. Es war echte, aufreibende, fordernde Jagd aus dem Vollen heraus, so erschöpfend wie erfüllend. Irgendwann, nach endlos scheinenden Stunden, die doch so schnell vergingen, kam Richard Lovell wieder an, und diesmal blieb er. Sammelte die Tauben auf, baute die Lockvögel ab. Steifbeinig und müde ging ich auf dem Acker hin und her, hob da noch einen Vogel auf und dort. Legte sie säuberlich zur Strecke, das war ich diesem Wild schuldig, das mir dem Buch zwar Niedere, meinem Empfinden nach aber hohe und höchste Jagd geschenkt hatte. 82 Tauben auf meinem Stand weist mein Tagebuch für diesen 1. August aus. Über die Zahl der verbrauchten Patronen breite ich kraft meiner heute noch schweißnassen Achselhöhlen das sanfte Tuch christlicher Barmherzigkeit. Ein Photo steht auf meinem Bücherregal, so, dass ich es stets vom Sofa aus im Auge habe: Georges hoch aufgerichtet, hinter ihm die Wiltshire Downs, vor ihm ein obszön großer Haufen von Ringeltauben: 168 gezählt. 250 für uns zwei, erlegt in nicht ganz vier Stunden. Wahrlich ein rot in den Kalender zu schreibender Tag, ein Red Letter Day.

Wieder in Charlton Abbotts angekommen ging es wiederum auf Böcke: die Jagdgäste waren abgereist, wir beide waren übrig geblieben. Wie die beiden Jahre zuvor ging ich vor allem mit Georges als Blattender, er schoss mit seiner schnellen und sauberen Kugel im hohen Gras der weiten Wiesen zwei alte und nie gekannte Böcke sauber auf den Träger. Ich selbst konnte ebenfalls zwei zur Strecke zeigen: einen zwar nicht überalten, aber ungeraden Achter, der mich stichgrade einen mit Lärchen bestockten Steilhang herunter angesprungen kam, und einen weiteren, alten „Marschierer“, einen Bock mit seitlich gesehen ungleich gestellten Stangen also, den ich schon zwei Jahre zuvor gesehen, aber aufgrund der in der Nähe gelegenen und eben frisch mit Jungfasanen beschickten offenen Voliere nicht beschossen hatte. Diesmal war die Voliere noch leer, ich im Hohlweg am Waldrand sauber gedeckt und das Dreibein bot auf die 150 Schritt saubere und feste Auflage.

Georges und Jagdherr Tristan waren das aber alles nicht zufrieden. Drei Jahre war ich nun schon Sommer s in Charlton Abbotts zu Gast: das erste rein blattend, das zweite – horribile dictu – alles fehlend, und nun, im dritten Jahr meines Hierseins wollten beide, dass ich einen wirklich guten Bock schösse. Nun muss ich dazu sagen, dass die ebenmäßigen, perlstarken, dickstangigen, wohlbalancierten Bilderbuchsechser mich ganz ehrlich maßlos langweilen. Sollen andere sie schießen und sich daran freuen, wo es unter meiner Führung geschieht, freue ich mir alle verfügbaren Haxen aus dem Leibe. Wenn aber ein alter, verdrahter, abnormer Herr auf meine Kugel fällt, da sitze ich lang im Wald, halte Zwiesprache mit meinem Herrgott, der mich so reich beschenkt, bin still, zufrieden, eins mit mir und er mich umgebenden, riesengroßen, übervollen Welt und einfach glücklich. Georges aber zitierte in jenem großen Sommer dauernd einen ihm bekannten amerikanischen Jäger: „I want a buck, a big buck. One to hang on the wall and brag about“ – „Ich will einen Bock, einen großen Bock. Einen, den ich an die Wand hängen und damit angeben kann.“ Einen solchen sollte ich schießen. Ich strich durchs ganze Revier auf der Suche danach. Blattete hier, saß dort, pürschte da. Sah wohl viel, und gutes auch dabei. Aber keiner, den ich hätte schießen sollen: zu jung, zu eifrig noch, zu vererbbar. Keinen, den ich hätte schießen wollen.

An einem Morgen, es war der eingangs erwähnte 3. August. Wir saßen spät, gegen Neun war es, in der Küche beim Frühstück aus Eiern, Speck und Rehbratwürsten aus dem hiesigen Revier, da erzählte Georges von einem Waldstück, siebeneinhalb Hektar groß und völlig verkrautet: des Bäckers Holz genannt, Baker’s Wood. Dort sei noch nie gejagt, noch nie ein Bock geschossen worden. Dort sollte ich es versuchen, denn nach allem Überlegen müsste dort ein alter Bock zu Wege sein. Es war später Vormittag, als ich mich im Land Rover auf den Weg dorthin machte.

Baker’s Wood ist nahezu rechteckig: 500 Meter breit, 150 Meter tief. Steil nach Norden hin abfallend. In seiner südöstlichen Ecke ein kleiner, aber alter Bestand aus Thujen, daran nördlich anschließend ein schmaler Streifen Lärchen. Der Rest sind uralte Eichen mit entsprechendem Unterwuchs. Von der Straße aus pirscht man bergauf und kann dann, westlichen Ende beginnend, entweder durch das Eichenholz Krach machend stampfen, oder aber in der Ecke eines 100 mal 100 Meter tiefen Einsprungs auf einem alten Reitweg im bauchhohen Gras relativ leiser voran pürschen. Das war der Weg, den ich per Zufall fand. Ein kleines, verfallenes Steinmäuerlein war zu überwinden, dann stand ich in absolut stiller, tiefgrüner Waldeinsamkeit. Es mochten fünfzig oder siebzig Schritt gewesen sein, die ich mehr stehend als gehend durchs hohe Gras gewatet war, als links von mir zwischen Haselbuschen und Buchenheistern sich hangab eine kleine Blöße auftat, fünfzehn Meter im Geviert vielleicht. Ich setzte mich auf die Wegkante, kramte langsam den leisesten Blatter, den ich über meine Mutter vom Großvater ererbt hervor und begann mein Lied. Ich mochte ein Gsetzl abgespielt haben, da sah ich Bewegung unter mir am Rand der Blöße. Bewegung, stetig auf mich zu. Innehaltend hier, ein Stäudlein fegend da. Stillhaltend nun, mich in eine Salzsäule verwandelnd. Leise, sacht, ganz sacht ein Fiepen. Wieder Bewegung. Sieben Meter vor mir, sechs jetzt, gleich fünf. Nichts zu sehen, nur das Wippen der Halme im hohen Gras. Und plötzlich schoss es vorwärts, auf Handlänge an mir vorbei: ein braunes Huschen im Gras, noch nicht einmal auf Schulterhöhe: das war meine erste Bewegung mit dem kleinsten, heimlichsten Schalwild dieser Wälder, dem Muntjac, dem Bellhirsch. Älter noch als das Reh in unseren europäischen Breiten ist Muntiacus bereits vor 35 Millionen Jahren im Miozän in Frankreich und Deutschland nachweisbar. Die englische Population stammt freilich nicht von daher, sondern aus Südostasien und wurde in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts vom Herzog von Bedford als Parkwild wieder angesiedelt, hielt sich nicht an Mauern und Zäune und lebt und gedeiht im milden Klima Englands prächtig. Klein: 35 cm Schulterhöhe, wenn es hoch kommt. Wiegt bei 10 Kilogramm, und trägt als Geweih auf elendslangen Rosenstöcken kleine, vielleicht 8 cm hohe Gabelchen, wenn es denn schon auf die Goldmedaille schielt. Blitzt mit zwei Hauern im Oberkiefer in die Landschaft, hält kaum eine Sekunde still, ist nicht brunftsynchronisiert, so dass man auf einer Pirsch einem aufhabenden, einem angeworfenen, einem voll verfegten und einem im Bast befindlichen Bock begegnen kann. Ist darüber hinaus unsagbar neugierig, so dass es zu jeder Jahreszeit aufs Blatten zustehen kann, bietet schwere Jagd und das nach dem Damwild vielleicht wohlschmeckendste Wildpret. Dieses Tier kam nun auf Ellbogenhöhe an mir vorbeigeflüchtet und machte seinem Namen Bellhirsch alle Ehre: schreckte aufgeregt und anhaltend wie eine alte Geiß, der der Bart schon nach innen wächst. Nach einer Viertelstunde Zuwartens war endlich Ruhe, und ich konnte meine Pürsch den Krautweg entlang fortsetzen.

Es mochten vielleicht, wenn es hochkommt, dreißig Meter gewesen sein, die ich vorwärts kam, da stand ich mitten in dem erwähnten schmalen Streif von alten Lärchen, die hangab zogen. Darunter war’s schön licht und derhalben wuchs das Gras noch höher als Bauch: brusthoch war es hier, lediglich auf dem grade noch zu erahnenden Weg war es ein wenig einsehbar: hie und da ein kleines Lücklein. Hinter der ersten Lärche bezog ich Posten und – durch das Muntjac gewitzt – montierte ich das Zielvier von der alten Ferlacher Kipplaufbüchse, die ich von meiner Mutter und Lehrerin ererbt hatte, ab. Eine Zigarette lang ließ ich Ruhe werden im Wald, dann öffnete ich das grünleinen überzogene Brillenetui mit den Blattern, zog den leisesten, hellsten heraus, verschloss das Behältnis, stecke es ein, klemmte mir die Holzpfeife zwischen den Lippen und schob sacht und vorsichtig meinen Atem hinein. Der Rest ereignete sich innert weniger Sekunden: der helle, leise Kitzfiep war noch nicht einmal zu Ende, da rumpelte und rumorte es schon schräg über mir. Wilde, halmschlagende Flucht schräg durch den Bestand hinab, kein Muntjac diesmal: Rehe, zwei. Kurz wurde ein kahlhäuptiges Tier auf dem Weg sichtbar, dann ein weiteres, sichtlich ein Bock, grauen Gesichts, tiefer Rosen. Die Büchse war noch lang nicht an der Backe, da war er bereits unter dem Weg im hohen Gras weggetaucht. Ein weiterer Pfiff aus dem Blatter, ein Hochschauen, das Korn fährt aufs Kragenknöpfel, der Schuss ist raus, ein Haupt sinkt senkrecht ins hohe Gras. In mechanischen Griffen bricht die Büchse, kippt die Hülse aus dem ejektorlosen Schloss, gleitet eine frische Patrone ins Lager, stehen Muck und Grinsel wieder an dem Fleck, wo das Haupt versank. Und jetzt nagt das Hirn, die Unruhe: war das auch wirklich der Bock, den Du da beschossen, hastig, ohne recht hinzusehen? War da was auf dem Häuptel, oder war da nichts? Und wenn da was droben war, was war denn drunter? Wer bist Du, dass Du glaubst im Gedankenhauch ansprechen zu können auf Tod und Leben, schneller als Dein Puls schlägt den eines anderen Lebewesens anzuhalten?

In den Halmen war Stille, weiter unten im Hang sah ich einmalig ein Rot aufblitzen, sonst nichts mehr. Die fünf Minuten, die zehn, die Zigarette oder Zigarre des Zuwartens hielt ich nicht aus. Ging, rannte zu der fraglichen Stelle. Schob Gras und Strauch beiseite, sah es rot und still im Grase liegen, bückte mich. Hielt eine feste, dicke Sechserstange mit tiefen, abfallenden Rosen in der Hand. Hob das Haupt auf, tastete, zählte. Die Beine knickten mir in der Knien weg. Eins, zwei, drei, zwischen den Stangen ein viertes, nach vorne weg ein fünftes, und unten, am Rosenstock seitlich zum Lauscher heraus ein sechstes End. Ein ungerader Zwölfer lag da.

Nach allen Regeln und Sitten habe ich diesen Bock verbrochen: gab ihm aus Lärchen den letzten Bissen, legte ihm den mit dem gebrochenen Ende zum Haupte weisenden Zweig aufs Blatt, schob mir den Erlegerbruch hinter die Hutschnur und hätte ich ein Jagdhorn gehabt, hätte ich gewusst wie es zu blasen sei, ich hätte es getan. Saß da, wie lange weiß ich nicht. Erlebte wieder und wieder die ganze Zeit, den ganzen, sehr großen Sommer aufs Neue und dankte. Dankte meinem Jagdherren, meinem Freund Georges, dankte Vater und Mutter, die mich soviel gelehrt, dankte meinem Herrgott, der mir das Jagen gegeben. Der Sommer war sehr, sehr groß. Gott legte seinen Schatten auf die Sonnenuhren, auf den Fluren ließ er die Winde los.
Ich baute mir kein Haus mehr, ich war allein und wollte es auch bleiben. Und wenn ich auf den Alleen hin und her wandelte im Blättertreiben: unruhig war ich nicht, denn in meinem herzen trug ich einen Sommer, der mich füllte und wärmte, einen ganzen kalten, leeren Winter lang.
 
Registriert
20 Aug 2007
Beiträge
2.669
Wahnsinn! Vielen Dank für die mitreissende Geschichte!

Kräftiges Weidmannsheil!
 
Registriert
16 Jan 2002
Beiträge
3.695
Ganz, ganz grosse Klasse!

Wann bzw. wo kann man Dein Buch erwerben?

Schon sehr lange keinen so gut geschriebenen Bericht mehr gelesen! Vielen Dank!
 
Registriert
3 Feb 2004
Beiträge
3.391
Es ist wirklich einsame Spitze. Du schaffst es zu fesseln!!!!!! In Deinen Geschichten verliert man sich gänzlich!!!

Ein großes, großes Lob und natürlich ein dickes weidmannsheil!!!!!!

Target
 
Registriert
29 Apr 2003
Beiträge
9.934
Hallo Bertram,

als ich nun Deine Geschichte zum zweiten Mal las, stellte ich mir vor, es wäre Sonntagfrüh und ich sitze vor dem Radiogerät und höre Deine Stimme aus dem Lautsprecher.

Danke dafür.


Klaus
 
Registriert
5 Sep 2005
Beiträge
2.052
Toll geschrieben. Ich hab mirs ausgedruckt und in der Mittagspause gelesen, das Essen habe ich dabei ganz vergessen. Bitte meeeeeeehr.
 
Registriert
21 Jul 2006
Beiträge
570
Euch allen ganz herzlichen Dank für all das Lob, wonach des Dichters Seele lechzt!
Ganz abgesehen davon, daß es mir großen Spaß macht, all dsa schöne Erlebte niederzuschreiben und damit gerade nocheinmal zu erleben: es sind Eure Antworten, die dafür sorgen, daß ich immer öfter meine Nächte am Schreibtisch verbringe. Und wenn es so weiterläuft, dann kann recht wohl ein Buch draus werden. Bis dahin gibt es hier immer wieder mal ein G'schichtl.

WH
BQ
 
Registriert
16 Feb 2003
Beiträge
10.574
Wunderbar geschrieben, Waidmannsheil und vielen Dank!
Für das Buch bestelle ich hiermit schon mal vor.
 
Registriert
3 Feb 2004
Beiträge
3.391
Bertram Quadt schrieb:
Bis dahin gibt es hier immer wieder mal ein G'schichtl.

WH
BQ

Bei dem Geschriebenen fällt das Lob ganz sicherlich nicht schwer!!!!!

Dann schreibe mal weiterhin fleißgi an Deinem Buch......ich freue mich schon auf die Geschichten!! :wink: :wink: :wink:
 
Registriert
16 Dez 2000
Beiträge
11.022
Mal ehrlich :

Deine Story's schädigen das Bruttosozialprodukt !

fängt mann an zu lesen;
ist der tag gelaufen.

Ähmm....

ich könnte noch den einen oder anderen Tag Sinnvoll beim lesen opfern...



Andreas
 
Registriert
6 Jun 2006
Beiträge
2.997
Der absolute Wahnsinn! Man fühlt sich, als ob man neben dir sitzen würde. Sollte es zu dem Buch kommen reserviere ich mir hiermit bereits eine Ausgabe :wink:
 
Registriert
28 Feb 2001
Beiträge
13.800
Die Geschichte sollte sich diese "lioness" mal durchlesen. Vielleicht begreift sie dann um was es geht.

basti
 
Registriert
22 Mai 2005
Beiträge
324
Auch von mir ein herzliches Dankeschön für diese Geschichte, sie hat mir den gestrigen Nachmittag versüßt, der eigentlich zum Lernen gedacht war...

Man kann richtig sehen, wie du an einigen Sätzen gefeilt und geschliffen hast, ich glaube, ich habe noch nie eine besser geschriebene Geschichte gelesen, auch nicht in gedruckter Form. Dein Stil ist dabei recht unverwechselbar - leider kommt der in den kühlen, sachlichen Nachrichtentexten beim SWR ja nicht so richtig zum Ausdruck :wink:

Grüße
Waidboschjäger
 

Neueste Beiträge

Online-Statistiken

Zurzeit aktive Mitglieder
143
Zurzeit aktive Gäste
511
Besucher gesamt
654
Oben