Erinnerung an Polen

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22 Mrz 2002
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Erster Jagdtag:

Es ist schwül hier in Oberschlesien, die Sonne durch einige Regenwolken verhangen, als wir an diesem Abend des ersten Jagdtages mit dem Auto in den von Landmaschinen ausgefahrenen Feldweg einbiegen, verfolgen uns sofort die Bremsen, deren Bestand sich hier offensichtlich alljährlich verdoppelt. Nach etwa 800 Metern Fahrtstrecke ist das Auto eingehüllt von tausenden dieser Plagegeister. Auto abstellen und fünf Minuten bei geschlossenen Fenstern warten, dann haben die meisten der Biester begriffen, dass es hier keine Nahrung gibt und sich verzogen. Tief vermummt, die Hände in den Taschen vergraben machen wir uns auf den Weg zur offe-nen Kanzel, begleitet von den verbleibenden Bremsen. Die 300 Meter quer über die frisch gemähte Wiese sind rasch zurückgelegt, kurz noch über ein Stück der Feuchtwiese. Frösche springen im wilden Durcheinander vor unseren Stiefeln davon. Die untere Sprosse der Leiter fehlt, ebenso einige Bretter der Kanzelwände. Naja, schließlich bin ich hier in Polen, die kennen keine Berufsgenossenschaft und Unfallversicherung, ebensowenig aber auch keine Eile und Hektik. Kaum aufgebaumt, die Kanzel bietet meinem polnischen Begleiter und mir ausreichend Sitzplatz, flammt das Feuerzeug auf, mit einem breiten Grinsen, die Zigarette im Mund, meint mein Führer: „Kucken Wind“. Nun eine mehr kann da auch nicht schaden, der Wind zieht genau dorthin, woher ei-gentlich das Wild austreten soll, also zünde ich mir auch erst mal eine an.

Aus weiter Ferne dringen die Geräusche der Erntemaschinen zu uns herüber. Ansonsten, bis auf die vielstimmi-gen Vogellaute und das Gesumme der Insekten angenehme, einschläfernde Ruhe. Geradeaus auf etwa 400 Meter ein halbes Dutzend Störche auf der Feuchtwiese, rechts begrenzt durch Inseln der in voller Farbenpracht stehen-den Goldrute, daneben ein kleines Eichenwäldchen. Zu unserer Linken ein undurchdringliches, allmählich ver-holzendes Dickicht aus Schilf, Weidenbüschen, Wollgras, Wiesensegge usw. Im Winter stellt sich hier sowohl Rot- als auch Schwarzwild in immensen Stückzahlen ein. Die Jagdgenossenschaft führt hier keine Drückjagden durch, weil aufgrund der Gegebenheiten eine solche nur bei Dauerfrost möglich wäre und ohnehin nicht genü-gend Hunde zur Verfügung stehen würden.

Leichter Nieselregen kommt auf, als sich rechts und keine 120 Schritte vor der Kanzel etwas rührt. Ein junges Böcklein treibt seine Angebetete in raschem Troll, quer über die Wiese vor sich her. Zu rasch verlieren wir die beiden wieder aus den Augen, als sie unüberhörbar in das Unterholz eintauchen. Wenige Minuten später, bre-chen, krachen, grunzen, quieken, als sich für uns unsichtbar, eine offensichtlich größere Rotte Scharzwild von der Waldung in das Dickicht einschiebt. Anscheinend sind in diesem Dschungel recht passable Verkehrswege vorhanden, denn es ist anschließend nur noch leises rascheln zu vernehmen, das sich bald in der Unendlichkeit verliert.

Entferntes Donnergrollen kündigt ein Gewitter an. Der Wind hat gedreht und wird nun böig. Nach den Wolken zu urteilen werden wir aber nur, wenn überhaupt, die Ausläufer erwischen. 200 Meter hinter uns, zieht ein Bock spitz auf uns zu. Nanu , keine Geiß dabei? Oder ist sie etwas zurückgeblieben und durch den herunterhängenden Ast noch verdeckt.? Egal, der Bock passt. Massige Gestalt und starker Träger. Eine Seite lediglich ein Spieß, die andere Seite eine Gabel, aber was für eine. Die Vordersprosse wohl an die 8 cm lang. Beide Stangen weit über Lauscher hoch und nahezu schwarz. Der Bock verweilt nun schräg hinter der Kanzel, ich sitze in die andere Richtung, an eine Veränderung der Sitzposition ist nicht zu denken. Warten! Der Bock zieht weiter, bald hat er das hohe Gras erreicht. Beruhig dich erst mal wieder! Ich finde keine Auflage. Sch...konstruktion. Scherenför-miger Aufbau aber mit zusätzlichem Mittelholm. Wo ich auch auflegen will, ist mir eine Stange im Weg. Nun so kann´s klappen, die linke Schulter (ich bin Linksschütze) hinausgelehnt, mit dem rechten Arm die Stange um-armt. Ins Ziel gegangen, eingestochen, der Bock sichert. Ich bin drauf und lasse fliegen. Der Alte wirft auf und äst weiter.
Verdammt was ist passiert? Überschossen! Repetieren, nochmal mit dem Fernglas zum Bock geschaut. Ich sehe ihn nur von hinten, er zieht weiter zur Brombeerhecke, äst und steht auf 120 Meter wieder breit. Ich habe gute Auflage, aber weiche Knie, jetzt oder nie, die Kugel ist draußen, der Bock springt mit allen Vieren, taumelt und liegt am Anschuß.

Keine Zigarette, keine zehn Minuten warten, der Wind hat wieder gedreht, Blitze und Donner nur noch wenige Kilometer entfernt. Abbaumen, zum Bock, kurze Andacht und Verweilen. Beim Versorgen des Bockes bringen uns die Stechmücken an den Rand der Verzweiflung. Mund, Augen, Ohren und Nase, keine Stelle bleibt ver-schont. Mein Begleiter versucht mit einem belaubten Eichenast, den ich später in seiner ganzen Größe als Bruch überreicht bekomme, die Plagegeister wenigstens ein bisschen auf Distanz zu halten.

Mittlerweile trifft mein Freund und dessen polnischer Begleiter mit dem Auto bei uns ein. Auch er hatte Waid-mannsheil und allergrößte Bedenken, dass wir hier auf der relativ freien Fläche mitten im Unwetter sitzen müss-ten. und holte uns deshalb vor der vereinbarten Zeit ab. Wer schon einmal ein solches Gewitter aus unmittelbarer Nähe miterlebt hat, kann sich vorstellen, wie dankbar ich ihm für diese Weitsicht gewesen bin.
 

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