Weltwirtschaft ohne Regeln

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Der Handelsgipfel in Hongkong steht vor dem Scheitern. Wenn Industrie- und Entwicklungsländer sich nicht einigen, droht ein Rückfall in die Kleinstaaterei.

Pascal Lamm ist ein äußerst bedächtiger Mann. Nie, das weiß man spätestens seit seiner Zeit als EU-Kommissar, würde der Generaldirektor der Welthandelsorganisation (WTO) öffentlich etwas sagen, ohne sich vorher ausführlich darüber Gedanken gemacht zu haben. Was Lamy vor einigen Tagen aus seiner Zentrale in der Genfer Rue de Lausanne 154 verlauten. ließ, dürfte daher eine ganze Reihe von Politikern und Ökonomen ziemlich nachdenklich gestimmt haben. Man müsse, so Lamy leicht gestelzt, bezüglich des anstehenden Welthandelsgipfels "die Erwartungen rekalibrieren, ohne die Ambitionen aufzugeben".

Übersetzt heißt das in etwa: Erwartet besser gar nichts. Präziser könne man die Lage kaum umschreiben. Das für den 3. bis 18. Dezember in Hongkong angesetzte WTO-Ministertreffen steht faktisch vor dem Scheitern, weil sich Industrie- und Entwicklungsländer nicht auf ein gemeinsames Vorgehen beim Abbau der globalen Handelsschranken verständigen können. Die demnächst 1.19 Mitgliedsstaaten der Organisation sind sich über derart wenig einig, dass das höchste der Gefühle eine unverbindliche Abschlusserklärung werden dürfte, aus der sämtliche strittigen Zahlen entfernt sind. "Ich bin für Hongkong sehr pessimistisch". sagt Jagdish Bhagwati, Ökonom an der New Yorker Columbia University und wohl der profilierteste Handelsexperten der Welt. "Für vernünftige Kompromisse ist einfach nicht mehr genug Zeit. Wenn bei dem Treffen irgendetwas herauskäme, wäre ich sehr positiv überrascht.

Es wäre ein Fehlschlag mit Anlauf. Seit die ,Doha-Runde" genannten Verhandlungen über eine weitere Liberalisierung des Welthandels vor vier Jahren in der gleichnamigen Stadt im Wüstenscheichtum Katar begannen, läuft kaum etwas wie geplant. Nach dem spektakulären Scheitern des WTO-Ministertreffens in Cancun im Herbst 2003 wurden die Gespräche sogar ganz abgebrochen und erst im Juli des vergangenen Jahres wieder aufgenommen.


Den Ministern und ihren Experten läuft die Zeit davon. Im Juli 2007 enden die "Fast Track" genannten Befugnisse des US-Präsidenten George W. Bush, mit denen er internationale Abkommen de facto am Kongress vorbeischleusen und allein abschließen kann. Steht bis April 2007 kein Vertrag, wird wohl jede spätere Einigung von den zunehmend protektionistischen Abgeordneten bis zur Unkenntlichkeit verwässert.

Schuldige sind schwer auszumachen. Dank der Unzahl der teilnehmenden Länder und Interessen schlagen sich die WTO-Vermittler in Genf mit einem gigantischen Knäuel aus ineinander verschlungenen Forderungen, Weigerungen und Gegenforderungen herum. Es geht um Exportsubventionen, Schutzzölle, Garantiepreise und Importquoten, 150 Kapitel und Unterkapitel, die Regale meterweise Papier füllen und mittlerweile so komplex sind, dass sie kaum noch jemand versteht. Um Kühe, Hirse, Autos und Kopfschmerztabletten - und um Interessengruppen, die sich G-10, G-20 oder G-90 nennen. Wäre das Treffen von Hongkong ein Berg, es wäre der Mount Everest.

Im Kern stehen die Industriestaaten aus Europa und Amerika den Entwicklungs- und Schwellenländern gegenüber. Letztere wollen Zugang zu den abgeschotteten Agrarmärkten der reichen Länder, damit sie ihre Wettbewerbsvorteile bei landwirtschaftlichen Produkten nützen und sich endlich selbst aus der Armut befreien können. Der reiche Norden versucht, dies weitgehend zu verhindern und gleichzeitig die armen Kollegen zur Senkung ihrer Zölle bei Industriegütern zu bewegen, was diese wiederum nicht wollen.

Verkompliziert wird die Lage noch dadurch, dass die wirklich unterentwickeltsten Ecken der Welt bereits jetzt von Vorzugskonditionen im Handel vor allem mit der EU profitieren und durch generelle Zollsenkungen unliebsame Konkurrenz aus Schwellenländern wie Brasilien oder Südafrika bekämen. Und schließlich kann der europäische Verhandlungsführer Peter Mandelson nicht so, wie er will, weil schon die 25 Mitgliedsländer der EU in puncto Freihandel zerstritten sind und Frankreich mit einem Veto jeder Vereinbarung droht, die seinen staatlich gepäppelten Großbauern schaden würde. "Es ist wie ein Spiel", sagt Andr6anne Leger vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. "Die EU will nichts aufgeben, ohne dass die USA das auch tun. Die USA tun nichts ohne Brasilien und Indien, und so weiter. Am logischsten wäre ein Kompromiss. Aber viele Teilnehmer haben Grenzen, die sie nicht überschreiten können, wenn sie das Verhandlungsergebnis zu Hause verkaufen wollen.

Auf deutscher Seite wird der neue Wirtschaftsminister Michael Glos an den Verhandlungen teilnehmen, wohl in Begleitung von Landwirtschaftsminister Horst Seehofer und Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul. Da auch Glos Beamte die Erfolgschancen des Gipfels als mäßig einschätzen, reist der Minister erst am zweiten Tag per Linienflug an und schickt seine Experten im Regierungsairbus voraus.

Entscheidender Knackpunkt ist die Landwirtschaft in Form dreier Zahlen: Um 39 Prozent ist die EU bereit, ihre Einfuhrzölle auf Agrarprodukte durchschnittlich zu senken, wenn sie im Gegenzug Zollsenkungen bei höherwertigen technischen Gütern bekommt. Minus 70 Prozent ist das Angebot der Amerikaner, die dies aber von Zugeständnissen bei Dingen wie Exportsubventionen abhängig machen. Die Schwellenländer der G-20-Gruppe fordern mindestens 54 Prozent weniger Zoll. Ohne eine definitive Zusage dessen wollen sie über andere Punkte gar nicht verhandeln. Agrarprodukte, die nur knapp vier Prozent des Welthandels ausmachen, sind das Zünglein an der Waage des Gipfels, dessen Beschlüsse, so es sie denn gibt, weit mehr als 90 Prozent betreffen würden. "Die Landwirtschaft ist das größte Problem", sagt Benoit Chervalier, Handelsexperte des German Marshall Fund in Paris. "Und dort die Tatsache, dass von einer Agrarliberalisierung die hocheffizienten Produzenten wie Brasilien oder Südafrika am meisten profitieren würden, nicht die wirklich armen Länder, die deshalb logischerweise auch dagegen sind.

Darüber hinaus ist die EU heterogen. Die USA können Vorschläge machen, die Mandelson seinen Mitgliedsstaaten nicht vermitteln kann. All das erschwert ein Ergebnis sehr." Davon abgesehen, haben sich aber auch die Grundlagen verändert. War die 1993 beendete Uniguay-Runde noch völlig von den Interessen der Industrieländer dominiert, bekam Doha von vornherein den Beinamen "Entwicklungsrunde" und sollte dem Vorteil der armen Länder Vorrang vor dem der reichen einräumen - da die Armen sonst wohl nicht mehr mitgemacht hätten. Das rächt sich nun dadurch, dass die "Begünstigten" verständlicherweise auf die Zielsetzung pochen und andernfalls die Mitarbeit einstellen, was 2003 das Treffen in Cancun sprengte.

Außerdem stand Uruguay unter der Oberhoheit des General Agreement on Tariffs and Trade (Gatt), der Vorgängerorganisation der WTO, die keine verbindlich einforderbahren Regeln kannte. Die seit 1994 existierende WTO dagegen hat Schiedsgerichte zur Durchsetzung ihrer Beschlüsse. Erst am Donnerstag musste die EU aufgrund so eines Spruchs ihre Zuckerpreisordnung umbauen. Jeder Teilnehmer achtet daher nun höllisch darauf, nichts Unvorteilhaftes zu unterschreiben.

Die für die WTO wichtigste Komplikation ist allerdings auch die grundlegendste: Die Organisation wird umgangen. Aus Frustration über den schleppenden Fortgang der multilateralen Verhandlungen schließen immer mehr Staaten untereinander Freihandelsverträge. Weltweit existieren bereits mehr als 300 bilaterale Abkommen, von den 149 WTO-Ländern handelt beispielsweise die EU nur noch mit neun auf Basis der allgemeinen Regeln. Als letztes schloss China am Dienstag einen Freihandelsvertrag mit Chile, den der chilenische Präsident Ricardo Lagos als "beispielhaft" feierte. "An sich ist an bilateralen Vereinbarungen nichts Böses", sagt Keith Rockwell aus der WTO-Zentrale dazu diplomatisch. "Aber sie können unsere Probleme nicht lösen. Landwirtschaft zum Beispiel kann nie im Rahmen bilateraler Verträge geregelt werden. Gerade jetzt, wo so viel auf dem Spiel steht, ist es wichtig, dass wir uns auf die multilateralen Verhandlungen konzentrieren."

Was der WTO den Konsens erschwert, gefährdet auch ihre Relevanz. Gibt es keine Regeln für alle, setzt sich der Trend zu zwischen-staatlichen fort, der immer enger vernetzte Globus marschiert paradoxerweise gerade beim Handel in Richtung Kleinstaaterei. "Die bilateralen Abkommen sind extrem schädlich", sagt Jagdish Bhagwati. "Sie verstopfen das ganze System. Besonders die Entwicklungsländer sind die Leidtragenden, weil sie in solchen Verhandlungen fast nie faire Konditionen gegenüber Megablöcken wie der EU oder den USA durchsetzen können." Zum anderen entsteht so ein Wust an Regeln, die sich von Land zu Land unterscheiden. Und je mehr es davon gibt, desto unattraktiver wird es, das Tohuwabohu im Rahmen der WTO wieder zu ordnen.

Scheitert Hongkong, wird damit vieles schwerer. Zwar wird der Welthandel auch so weiter wachsen, allein im letzten Jahr legte er um fast zehn Prozent zu. Aber die jüngste Studie der Weltbank zum Thema schätzt den globalen Wohlstandsgewinn einer gleichmäßigen und radikalen Liberalisierung auf mindestens 250 Milliarden Euro bis zum Jahr 2015. 45 Prozent davon gingen an die Entwicklungsländer.
"Hongkong wird ein Weckruf", sagt Bhagwati. "Die Wohlstandsgewinne sind so gigantisch, dass sie jeden überzeugen sollten. Alle wissen, dass sie das ohne die WTO untereinander nie hinbekommen.

Wir können es schaffen.

Vielleicht nach Hongkong."
 
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hm ist das jetzt gut oder nicht?

*mitvorsichtigenAntiGlobalisierungsgrüßen*
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A

anonym

Guest
1. ....und was sagt uns das.
2. ... erwartest du von uns , daß wir Einfluß nehmen.
3. ..... haben wir das gleiche Problem nicht bei der dt. Steuergesetztgebung. Alle wissen, daß drastisch Vereinfacht werden muß - ... und es wird immer kompliziertert.
Nur die Erwähnung der Kirchhofschen Steuerpläne hat doch die CDU den sicher geglaubten Wahlsieg gekostet.
..... schon mal was vom St. Florians-Prinzip gehört ???
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P.

[ 16. Dezember 2005: Beitrag editiert von: Bärentöter ]
 
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1) wir können es nicht schaffen.
2) Bärentöter hat Recht, trifft mit Florian genau in die Zehn.
 

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